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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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malen sich die Gesichter an, und dann gehen sie aus und spazieren am Ufer des Sees entlang, ohne sich zu unterhalten, betrachten versonnen die kreuzenden Boote, deren Besatzungen lieber die Augen niederschlagen, sofern sie keine Azteken sind, und weiterfischen oder rasch das Weite suchen, denn einige Azteken haben grausame Launen, und nachdem sie auf und ab gegangen sind wie Philosophen, betreten sie die Pyramiden, die alle innen hohl sind, deren Innenräume denen von Kathedralen ähneln und nur durch ein Oberlicht erhellt werden, ein durch einen großen Obsidian gefiltertes Licht, also ein dunkelleuchtendes Licht. Hast du übrigens jemals einen Obsidian gesehen?« fragte das Mädchen.
    »Nein, nie«, sagte Reiter, »oder wenn, dann ohne es zu merken.«
    »Du hättest es sofort gemerkt«, sagte das Mädchen. »Obsidian ist schwarzer oder nachtgrüner Feldspat, was allein schon interessant ist, denn Feldspate sind in der Regel weiß oder gelblich. Die wichtigsten Feldspate sind Orthoklas, Albit, Labradorit, damit du es weißt. Aber mein Lieblingsfeldspat ist der Obsidian. Na gut, weiter mit den Pyramiden. Auf ihrer obersten Stufe befindet sich der Opferstein. Rate mal, woraus er besteht.«
    »Aus Obsidian«, sagte Reiter.
    »Richtig«, sagte das Mädchen, »ein Stein wie ein Operationstisch, auf den die aztekischen Priester oder Ärzte ihre Opfer streckten, bevor sie ihnen das Herz herausrissen. Aber über das, was jetzt kommt, wirst du wirklich staunen: Diese Steinbetten waren durchsichtig! Sie wurden so poliert oder so ausgewählt, dass es durchsichtige Opfersteine waren. Und die Azteken unten in den Pyramiden verfolgten das Opfer gleichsam von innen, denn wie du sicher schon erraten hast, stammte das Oberlicht, das den Bauch der Pyramiden erhellte, von einer Öffnung genau unter dem Opferstein. Daher ist das Licht anfangs schwarz oder grau, ein gedämpftes Licht, das von den Azteken, die sich andächtig im Innern der Pyramiden aufhalten, nur die Umrisse erkennen lässt, aber wenn sich dann das Blut des neuen Opfers auf dem durchsichtigen Obsidian über der Öffnung ausbreitet, wird das Licht zu Rot und Schwarz, zu einem sehr lebendigen Rot und einem sehr lebendigen Schwarz, und auf einmal erkennt man nicht mehr nur die Umrisse der Azteken, sondern auch ihre Gesichtszüge, von rotem und schwarzem Licht verklärte Züge, als hätte das Licht die Kraft, jedem von ihnen ein Gesicht zu geben, und unterm Strich war es das, aber das kann eine Weile dauern, das entzieht sich der Zeit oder versetzt in eine andere Zeit, in der andere Gesetze herrschen. Wenn die Azteken die Pyramiden verlassen, kann ihnen das Sonnenlicht nichts mehr anhaben. Sie benehmen sich, als herrsche Sonnenfinsternis. Und kehren zu ihren Alltagsbeschäftigungen zurück, die im Wesentlichen darin bestehen, spazieren und schwimmen zu gehen und anschließend wieder spazieren zu gehen und lange schweigend nicht wahrnehmbare Dinge zu betrachten oder die Muster zu studieren, die Insekten auf dem Boden hinterlassen, und gemeinsam mit ihren Freunden zu essen, aber alles schweigend, was fast kaum anders ist, als allein zu essen, und von Zeit zu Zeit Krieg zu führen. Und über dem Himmel liegt immer eine Sonnenfinsternis, die sie begleitet«, sagte das Mädchen.
    »Junge, Junge«, sagte Reiter, der vom Wissen seiner neuen Freundin beeindruckt war.
    Unbeabsichtigt gingen sie eine Weile lang schweigend nebeneinander her, als wären sie Azteken, bis das Mädchen fragte, bei was er schwören wolle, bei den Azteken oder bei den Gewittern.
    »Ich weiß nicht«, sagte Reiter, der wieder vergessen hatte, warum er schwören sollte.
    »Such es dir aus«, sagte das Mädchen, »und überleg es dir gut, es ist viel wichtiger, als du denkst.«
    »Was ist wichtiger?«, fragte Reiter.
    »Dein Schwur«, sagte das Mädchen.
    »Und warum ist es wichtig?«, fragte Reiter.
    »Für dich keine Ahnung«, sagte das Mädchen, »aber für mich ist es wichtig, denn es entscheidet über mein Schicksal.«
    Da erinnerte sich Reiter, dass er schwören sollte, sie nie zu vergessen, und spürte einen heftigen Schmerz. Einen Moment lang konnte er kaum atmen, und dann spürte er, dass ihm die Worte im Halse steckenblieben. Er beschloss, bei den Azteken zu schwören, da er Gewitter nicht mochte.
    »Ich schwöre bei den Azteken, dass ich dich nie vergessen werde«, sagte er.
    »Danke«, sagte das Mädchen, und sie gingen weiter.
    Nach einer Weile, und obwohl es ihn schon nicht mehr interessierte,

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