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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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fragte Reiter sie nach Halders Adresse.
    »Er lebt in Paris«, sagte das Mädchen seufzend, die Adresse kenne ich nicht.
    »Aha«, sagte Reiter.
    »Es ist normal, dass er in Paris lebt«, sagte das Mädchen.
    Reiter fand, dass sie vielleicht recht hatte und es das Normalste von der Welt war, wenn Halder jetzt in Paris lebte. Als es dunkel wurde, begleitete Reiter das Mädchen bis vor seine Haustür und rannte dann zum Bahnhof.
    Der Angriff auf die Sowjetunion begann am 22. Juni 1941. Die 79. Division gehörte zur 11. Armee, und wenige Tage später überschritten Vorauskommandos der Division den Pruth und zogen Schulter an Schulter mit rumänischen Armeeverbänden in den Kampf, die viel mehr Mut an den Tag legten, als die Deutschen erwartet hatten. Dennoch gelang ihnen kein so schneller Vormarsch wie den Einheiten der Heeresgruppe Süd, bestehend aus der 6. und 17. Armee und der damals so genannten Panzergruppe 1, die im Laufe des Krieges ebenso wie die Panzergruppe 2, die Panzergruppe 3 und die Panzergruppe 4 die eindrucksvollere Bezeichnung Panzerarmee erhielt. Die Kapazitäten an Material und Menschen der 11. Armee waren ungleich geringer, von der Orographie der Region und den fehlenden Straßen ganz zu schweigen. Der Angriff konnte außerdem mit keinem Überraschungseffekt rechnen, wie er den Heeresgruppen Süd, Mitte und Nord zugutegekommen war. Aber Reiters Division leistete, was ihre Befehlshaber von ihr erwarteten, sie überschritt den Pruth und kämpfte, kämpfte sich anschließend über die Ebenen und Hügel Bessarabiens, überschritt den Dnjestr und erreichte die Außenbezirke von Odessa, zog weiter, während die Rumänen blieben, kämpfte mit zurückweichenden russischen Truppen, überschritt den Bug, rückte weiter vor und zog eine Kielspur verbrannter ukrainischer Dörfer, verbrannter Scheunen und verbrannter Wälder hinter sich her, Wälder, die plötzlich wie von Zauberhand aufflammten, Wälder, die aussahen wie dunkle Inseln inmitten endloser Weizenfelder.
    Wer steckt all die Wälder in Brand, fragte Reiter manchmal Wilke, und der Angesprochene zuckte die Schultern, ebenso Neitzke und Kruse und Unteroffizier Lemke, erschöpft vom vielen Marschieren, denn die 79. Division war eine nicht motorisierte Division, das heißt, eine Division, deren Fortbewegung auf Zugtiere angewiesen war, und die einzigen Tiere waren die Maultiere und die Soldaten, die Maultiere hatten das schwere Gerät zu ziehen und die Soldaten hatten zu marschieren und zu kämpfen, als hätte der Blitzkrieg nie sein weißes Auge im Organisationsplan der Division aufgeschlagen, wie zu napoleonischen Zeiten, sagte Wilke, Märsche und Rückmärsche und Gewaltmärsche, eigentlich immer Gewaltmärsche, und sagte dann, wie alle Übrigen ohne vom Boden aufzustehen, keine Ahnung, wer die verdammten Wälder abgefackelt hat, wir waren es jedenfalls nicht, hab ich recht, Jungs? Und Neitzke sagte, nein, wir waren es nicht, Kruse und Barz sagten das Gleiche, und sogar Unteroffizier Lemke sagte nein, wir haben dieses Dorf dort niedergebrannt oder wir haben dort links das Dorf oder dort rechts das Dorf bombardiert, aber nicht den Wald, und seine Männer nickten, und niemand sagte mehr etwas, alle schauten nur auf den brennenden Wald, wie das Feuer die dunkle Insel in eine orangerote Insel verwandelte, vielleicht war es das Bataillon von Hauptmann Ladenthin, sagte einer, die kamen von dort, sie müssen im Wald auf Widerstand gestoßen sein, vielleicht war es die Pionier-Kompanie, sagte ein anderer, in Wirklichkeit aber hatten sie nichts gesehen, weder deutsche Soldaten außen herum noch Widerstand leistende sowjetische Soldaten innerhalb des Sektors, nur den schwarzen Wald inmitten eines gelben Meeres unter einem strahlend blauen Himmel, und plötzlich, ohne Vorankündigung, als säßen sie in einem großen Weizentheater und der Wald wäre die Bühne und die Vorbühne dieses runden Theaters, das Feuer, das alles verschlang und wunderschön war.
    Nach dem Bug überquerte die Division den Dnjepr und stieß auf die Krim-Halbinsel vor. Reiter kämpfte in Perekop und in mehreren umliegenden Dörfern, deren Namen er nie erfuhr, deren unbefestigte Straßen er aber passierte, dort Leichen fortschaffte, Alten, Frauen und Kindern befahl, in die Häuser zu gehen und sie nicht zu verlassen. Manchmal wurde ihm schwindlig. Manchmal, wenn er schnell aufstand, umwölkte sich sein Blick, wurde ihm schwarz vor Augen, sah er lauter feine Pünktchen, ähnlich einem

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