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Meteoritenschwarm. Aber die Meteoriten bewegten sich sehr merkwürdig. Oder bewegten sich eben nicht. Es waren unbewegliche Meteoriten. Manchmal stürzte er sich zusammen mit seinen Kameraden in die Eroberung einer feindlichen Stellung, ohne die geringste Vorsichtsmaßnahme, was ihm den Ruf der Kühnheit und Tapferkeit eintrug, obwohl er bloß eine Kugel suchte, die seinem Herzen Frieden brachte. Eines Nachts sprach er Wilke gegenüber unbedacht von Selbstmord.
»Wir Christen holen uns einen runter, aber wir hängen uns nicht auf«, sagte Wilke, und bevor er einschlief, dachte Reiter über seine Worte nach, denn er vermutete, dass sich hinter Wilkes Kalauer eine Wahrheit verbarg.
Trotzdem änderte das nichts an seiner Einstellung. In der Schlacht um die Einnahme von Tschornomorske, bei der das Regiment 310 und insbesondere Reiters Bataillon eine herausragende Rolle spielte, setzte er bei mindestens drei Gelegenheiten sein Leben aufs Spiel, das erste Mal beim Sturm auf eine gemauerte Kasematte in der Umgebung von Kirowske, einem Knotenpunkt zwischen Tschernischowe, Kirowske und Tschornomorske, eine Kasematte, die keinen einzigen Artillerieangriff überstanden hätte, eine Kasematte, bei deren Anblick Reiter augenblicklich das Mitleid packte, denn sie verriet Armut und Naivität, als wäre sie von Kindern gebaut worden und würde von Kindern verteidigt. Der Kompanie fehlte es an Mörsergranaten, daher wurde beschlossen, sie im Sturm zu nehmen. Freiwillige wurden gesucht. Der Erste, der vortrat, war Reiter. Zu ihm gesellten sich fast sofort der Soldat Voß, ebenfalls ein Draufgänger oder potentieller Selbstmörder, und drei weitere Soldaten. Die Erstürmung ging schnell vonstatten: Reiter und Voß näherten sich über die linke Flanke der Kasematte, die anderen drei über die rechte. Als sie auf zwanzig Meter heran waren, kam Gewehrfeuer aus dem Innern der Kasematte. Die drei auf der rechten Flanke warfen sich zu Boden. Voß zögerte, Reiter lief weiter. Er hörte das Zischen einer Kugel, die wenige Zentimeter an seinem Kopf vorbeiflog, aber er duckte sich nicht. Im Gegenteil, sein Körper schien sich in dem vergeblichen Versuch emporzurecken, die Gesichter der Jugendlichen zu sehen, die ihm den Rest geben würden, er konnte aber nichts sehen. Eine weitere Kugel streifte seinen rechten Arm. Er spürte, wie jemand ihn von hinten stieß und umwarf. Es war Voß, der, obgleich waghalsig, doch noch einen Funken Verstand besaß.
Eine Weile lang sah er zu, wie sein Kamerad, nachdem er ihn zu Boden gerissen hatte, auf die Kasematte zurobbte. Er sah Steine, Gräser, wilde Blumen und die eisenbeschlagenen Sohlen von Voß, der ihn hinter sich ließ und eine kleine Staubwolke aufwirbelte, klein für ihn, aber nicht für die Ameisenkarawane, die von Nord nach Süd kreuzte, während Voß von Ost nach West robbte. Dann erhob er sich und begann über den Körper von Voß hinweg auf die Kasematte zu schießen, und wieder hörte er das Pfeifen der Kugeln um sich herum, während er schoss und weiterging, als würde er spazieren gehen und Fotos schießen, bis die Kasematte, von einer, noch einer und noch einer Handgranate der auf rechts vorrückenden Soldaten getroffen, explodierte.
Das zweite Mal, dass es ihn fast erwischt hätte, geschah in der Schlacht um Tschornomorske. Die beiden Hauptregimenter der 79. Division starteten den Angriff, nachdem die gesamte Artillerie der Division in der Gegend um den Hafen zusammengezogen worden war, wo die Straße von Tschornomorske nach Ewpatoria, Frunze, Inkerman und Sewastopol ihren Ausgang nahm und keine topographischen Hindernisse im Weg lagen. Der erste Angriff wurde zurückgeschlagen. Reiters Bataillon, das in Reserve lag, kam mit der zweiten Welle. Die Soldaten liefen los, über die Drahtabsperrungen, während die Artillerie die Zielrichtung korrigierte und die sowjetischen Maschinengewehrnester zerschoss, die man lokalisiert hatte. Mitten im Lauf begann Reiter zu schwitzen, als hätte ihn von einer Sekunde zur anderen das Fieber gepackt. Er dachte, diesmal werde er bestimmt sterben, und die Nähe des Meers bestärkte ihn noch in dieser Annahme. Zuerst überquerten sie eine Brachfläche, gelangten dann in einen Garten mit einem kleinen Häuschen, aus dessen einem winzigen und schiefen Fenster sie ein weißbärtiger Alter anschaute. Reiter kam es so vor, als äße der Alte etwas, weil sich seine Kiefer bewegten.
Am anderen Ende des Gartens befand sich ein Feldweg, und ein Stück weiter
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