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sahen sie fünf sowjetische Soldaten, die mühsam eine Kanone hinter sich herzogen. Sie töteten die fünf und liefen weiter. Die einen blieben auf dem Weg, die anderen schlugen sich in ein Kiefernwäldchen.
Im Wald erspähte Reiter zwischen dürrem Geäst eine Figur und blieb stehen. Es war die Statue einer griechischen Göttin, zumindest glaubte er das. Sie trug das Haar hochgesteckt, war groß und ihr Gesicht ausdruckslos. Schweißgebadet und zitternd stand Reiter da und streckte den Arm nach ihr aus. Der Stein oder Marmor, das konnte er nicht sagen, war kalt. Der Standort der Statue entbehrte nicht einer gewissen Absurdität, denn der von Bäumen verdeckte Platz schien für eine Statue wenig geeignet. Einen kurzen, bitteren Moment lang dachte Reiter, er müsse die Statue etwas fragen, aber ihm fiel keine Frage ein, und sein Gesicht verzog sich zu einer schmerzlichen Grimasse. Dann lief er weiter.
Der Wald endete auf einer Anhöhe, von der aus man das Meer sehen konnte, den Hafen mit einer Art Strandpromenade, gesäumt von Bäumen und Bänken, sodann weiße Häuser und zweigeschossige Gebäude, die wie Hotels oder Kliniken aussahen. Die Bäume waren groß und dunkel. In den Hügeln sah man das eine oder andere brennende Haus und im Hafen eine Gruppe von Leuten, winzig klein, die sich darum prügelte, auf ein Schiff zu gelangen. Der Himmel war tiefblau und das Meer spiegelglatt. Zur Linken, auf einem Weg, der in Schlangenlinien hinabführte, tauchten die ersten Männer seines Regiments auf, derweil einige Russen flohen, andere mit erhobenen Händen aus Fischschuppen mit rußigen Wänden traten. Die Männer, die mit Reiter kamen, trabten die Anhöhe hinunter auf einen Platz zu, an dem zwei viergeschossige, weiß getünchte Neubauten standen. Als sie den Platz erreichten, wurde aus mehreren Fenstern auf sie geschossen. Die Soldaten suchten hinter den Bäumen Deckung, nur Reiter nicht, der, als hätte er nichts gehört, weiter auf die Tür eines der beiden Gebäude zuging. Die Fassade war mit einer Wandmalerei verziert, die einen Seemann darstellte, der einen Brief las. Einige Zeilen waren für den Betrachter gut erkennbar, nur leider in kyrillischer Schrift verfasst, und Reiter verstand kein Wort. Die Fliesen im Flur waren groß und grün. Es gab keinen Aufzug, und Reiter begann die Treppe hinaufzusteigen. Als er den ersten Treppenabsatz erreichte, wurde auf ihn geschossen. Er sah einen Schatten und spürte kurz darauf einen Stich im rechten Arm. Er ging weiter. Wieder schoss man auf ihn. Er hielt inne. Die Wunde blutete kaum und der Schmerz ließ sich gut aushalten. Vielleicht bin ich schon tot, dachte er. Dann dachte er, er sei es nicht und dürfe nicht ohnmächtig werden, bevor er nicht eine Kugel in den Kopf bekommen habe. Er ging auf eine Wohnung zu und trat die Tür ein. Er sah einen Tisch, vier Stühle, eine verglaste Anrichte voller Geschirr, obendrauf ein paar Bücher. Im Schlafzimmer fand er eine Frau mit zwei kleinen Kindern. Die Frau war blutjung, und in ihrem Blick lag panische Angst. Ich tu dir nichts, sagte er und versuchte zu lächeln, während er sich zurückzog. Er drang in eine zweite Wohnung ein, und zwei Milizionäre mit kurzgeschorenen Köpfen hoben die Hände und ergaben sich. Reiter sah sie nicht einmal an. Aus den anderen Wohnungen kamen Leute, die aussahen, als seien sie am Verhungern oder Insassen einer Besserungsanstalt. In einem Zimmer fand er neben dem offenen Fenster zwei alte Gewehre, die er auf die Straße warf, während er gleichzeitig seinen Kameraden Zeichen gab, das Feuer einzustellen.
Das dritte Mal, dass es ihn fast erwischt hätte, geschah Wochen später beim Angriff auf Sewastopol. Diesmal geriet der Vormarsch ins Stocken. Jedes Mal wenn die deutschen Truppen versuchten, eine Verteidigungslinie einzunehmen, deckte die gegnerische Artillerie sie mit einem Granathagel ein. Vor den russischen Schützengräben in unmittelbarer Nähe der Stadt türmten sich die zerfetzten Leiber deutscher und rumänischer Soldaten. Immer wieder kam es zum Kampf Mann gegen Mann. Die Sturmbataillone erreichten einen Schützengraben, in dem sie auf russische Matrosen stießen, und fünf Minuten wogte der Kampf, dann traten Letztere den Rückzug an. Aber kurz darauf tauchten noch mehr russische Matrosen auf, schrien hurra und nahmen den Kampf wieder auf. Für Reiter war die Anwesenheit der Matrosen in den staubigen Schützengräben von düsterer und befreiender Vorbedeutung. Einer von ihnen würde
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