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ihn sicher töten, und dann würde er zurück in die Tiefen des Baltikums oder des Atlantiks oder des Schwarzen Meers sinken, denn schließlich waren alle Meere ein einziges Meer, und auf dem Meeresgrund erwartete ihn ein Algenwald. Oder aber er würde einfach verschwinden.
Wilkes Ansicht nach war das total bescheuert, wo kamen die russischen Matrosen her? Was hatten die hier, mehrere Kilometer entfernt von ihrem natürlichen Element, dem Meer und den Schiffen, zu suchen? Es sei denn, die Stukas hätten die gesamte russische Flotte versenkt, phantasierte Wilke, und das Schwarze Meer wäre ausgetrocknet, was er natürlich nicht glaubte. Aber das sagte er nur zu Reiter, denn die Übrigen akzeptierten alles, was sie sahen oder was ihnen zustieß, als ganz normal. Bei einem Angriff starben Neitzke und noch andere aus seiner Kompanie. Eines Nachts in den Schützengräben richtete sich Reiter zu voller Größe auf und betrachtete die Sterne, doch wurde seine Aufmerksamkeit unweigerlich in Richtung Sewastopol gelenkt. Die Stadt in der Ferne war eine riesige schwarze Masse mit roten Mündern, die sich öffneten und schlossen. Die Soldaten nannten sie die Knochenmühle, aber in dieser Nacht kam sie Reiter nicht wie eine Maschine vor, sondern wie die Reinkarnation eines mythischen Wesens, wie ein lebendiges, schwer atmendes Tier. Unteroffizier Lemke befahl ihm, sich zu ducken. Reiter sah von oben auf ihn herab, nahm den Helm ab und kratzte sich am Kopf, und bevor er den Helm wieder aufsetzen konnte, wurde er von einer Kugel niedergestreckt. Im Fallen spürte er, wie eine weitere Kugel seinen Oberkörper traf. Mit verlöschendem Blick sah er Unteroffizier Lemke, der ihm vorkam wie eine Ameise, die allmählich immer größer wurde. Rund fünfhundert Meter weiter schlugen mehrere Granaten ein.
Zwei Wochen später erhielt er das Eiserne Kreuz. Ein Oberst überreichte es ihm im Feldlazarett von Nowoseliwka, schüttelte ihm die Hand und sagte, es gebe phantastische Nachrichten über seinen Einsatz bei Tschornomorske und Mykolaiw, dann ging er wieder. Reiter konnte nicht sprechen, da eine Kugel ihm die Kehle durchschossen hatte. Die Wunde in der Brust erwies sich als nicht mehr schwer, und kurz darauf wurde er von der Krim-Halbinsel nach Kriwoi Rog in der Ukraine verlegt, wo es ein größeres Krankenhaus gab und seine Kehle noch einmal operiert wurde. Nach der Operation aß er wieder normal, bewegte den Hals wie vordem, konnte aber nach wie vor nicht sprechen.
Die Ärzte, die ihn behandelten, wussten nicht, ob sie ihm einen Urlaubsschein für die Rückkehr nach Deutschland ausstellen oder zu seiner Division zurückschicken sollten, die noch immer Sewastopol und Kerch belagerte. Der Wintereinbruch und die sowjetische Gegenoffensive, die die deutschen Linien teilweise ins Wanken brachte, zögerte die Entscheidung hinaus, und am Ende wurde Reiter weder nach Deutschland noch zurück zu seiner Einheit geschickt.
Da er aber auch nicht im Krankenhaus bleiben konnte, wurde er mit anderen Verwundeten der 79. Division in die Ortschaft Kostekino am Ufer des Dnjepr geschickt, von manchen auch Mustergut Budjenny oder Süßbach genannt, nach einem Zulauf des Dnjepr, dessen Wasser von einer in dieser Region unüblichen Reinheit und Süße war. Übrigens war Kostekino nicht einmal eine richtige Ortschaft: Einige unterhalb der Hügel verstreut daliegende Häuser, Holzzäune, die vor Altersschwäche auseinanderfielen, zwei morsche Kornspeicher, eine unbefestigte Straße, die im Winter wegen Schnee und Schlamm unpassierbar wurde und den Ort mit einem Dorf verband, durch das der Zug fuhr. Am Rande des Orts gab es einen verlassenen Sowchos, den fünf Deutsche wieder flottzumachen versuchten. Die meisten Häuser waren verlassen, einige meinten, weil die Bewohner vor dem Einmarsch der deutschen Armee geflohen seien, andere, weil die Rote Armee sie zwangsrekrutiert habe.
Die ersten Tage schlief Reiter in einem Gebäude, das einmal das Sowchos-Büro oder der Sitz der Kommunistischen Partei gewesen sein musste und als einziges im Dorf aus Backstein und Beton bestand, doch das Zusammenwohnen mit den wenigen Deutschen, die in Kostekino lebten, den Technikern und den Rekonvaleszenten, wurde ihm schnell unerträglich. Er beschloss daher, in eine der vielen leeren Isbas zu ziehen. Auf den ersten Blick sahen sie alle gleich aus. Eines Abends, als er im Backsteinhaus einen Kaffee trank, erfuhr Reiter von einer anderen Version: Die Dorfbewohner waren weder
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