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zwangsrekrutiert worden noch geflohen. Die Entvölkerung war eine direkte Folge des Durchzugs einer Einheit der Einsatzgruppe C, die sich der Vernichtung aller im Dorf lebenden Juden angenommen hatte. Da er nicht sprechen konnte, fragte er nicht nach, aber am nächsten Tag schaute er sich sämtliche Häuser noch einmal genauer an.
In keinem von ihnen entdeckte er irgendwelche Hinweise auf die Herkunft oder die Religion der früheren Bewohner. Schließlich zog er in eins, das in der Nähe des Süßbachs lag. In der ersten Nacht quälten ihn Alpträume, die ihn mehrmals weckten. Dennoch konnte er sich nicht an das Geträumte erinnern. Das Bett, in dem er schlief, war sehr schmal und weich, es stand neben dem Kaminofen im Erdgeschoss des Hauses. Der erste Stock war eine Art Dachboden, in dem es ein weiteres Bett und ein winziges rundes Fenster gab, das an ein Bullauge erinnerte. In einer Truhe fand er mehrere Bücher, die meisten auf Russisch, zu seiner Überraschung aber auch einige auf Deutsch. Da er wusste, dass viele Juden die deutsche Sprache beherrschten, nahm er an, dass das Haus wirklich einem Juden gehört habe. Manchmal, wenn er aus einem Alptraum schreiend aufgewacht war und die Kerze angezündet hatte, die immer neben dem Bett lag, saß er lange still da, die Beine außerhalb des Bettes, betrachtete die im Licht der Kerze tanzenden Gegenstände und fühlte, dass es keine Rettung gab, während die Kälte ihn allmählich zu Eis erstarren ließ. Auch manchmal, wenn er morgens aufwachte, lag er nur still da und betrachtete die Decke aus Lehm und Stroh und dachte, dass das Haus eine irgendwie weibliche Note hatte.
Ganz in der Nähe lebten einige Ukrainer, die nicht aus Kostekino stammten, sondern erst vor kurzem hergezogen waren, um im Sowchos zu arbeiten. Wenn er das Haus verließ, grüßten ihn die Ukrainer, indem sie die Mützen zogen und sich leicht verneigten. In den ersten Tagen machte Reiter keine Anstalten, ihren Gruß zu erwidern. Später jedoch hob er scheu die Hand und grüßte, als würde er ihnen Lebewohl sagen. Jeden Morgen ging er zum Süßbach. Mit dem Messer grub er ein Loch, aus dem er mit einer Kelle etwas Wasser schöpfte und an Ort und Stelle trank, ganz gleich wie kalt es war.
Mit Einbruch des Winters zogen sich die Deutschen in das Backsteingebäude zurück, und manchmal feierten sie Feste, die bis in die frühen Morgenstunden dauerten. Niemand erinnerte sich an sie, es war, als hätten sie sich durch den Zusammenbruch der Front in Luft aufgelöst. Manchmal gingen die Soldaten auf die Suche nach Frauen. Andere Male trieben sie es untereinander, und niemand redete darüber. Das ist das gefrorene Paradies, sagte einer seiner früheren Kameraden aus der 79. zu ihm. Reiter sah ihn an, als würde er nichts verstehen, und der andere klopfte ihm auf den Rücken und sagte: Armer Reiter, armer Reiter.
Einmal betrachtete sich Reiter nach langer Zeit zum ersten Mal wieder in einem Spiegel, den er in einer Ecke seiner Isba gefunden hatte, und erkannte sich kaum wieder. Er sah einen blonden, verfilzten Bart, lange, schmutzige Haare und glanzlose, leere Augen. Scheiße, dachte er. Dann zog er den Verband von der Kehle: Die Wunde vernarbte offenbar ohne größere Probleme, aber der Verband war schmutzig und fühlte sich durch das schorfige Blut an wie Pappe, weshalb er beschloss, ihn in den Ofen zu werfen. Anschließend durchsuchte er das ganze Haus nach einem Ersatz für den Verband, und dabei stieß er auf die Aufzeichnungen von Boris Abramowitsch Ansky und auf das Versteck hinter dem Kaminofen.
Das Versteck war äußerst einfach, aber auch äußerst sinnreich. Der Kaminofen, der auch als Kochplatz diente, besaß eine breite Öffnung und einen langen Abzug, breit und lang genug, damit ein Mensch sich hineinzwängen konnte. Während die Breite sofort erkennbar war, blieb die Tiefe des Kamins den Blicken verborgen, da die verrußten Seitenwände die denkbar unscheinbarste Tarnung bewirkten. Mit bloßem Auge ließ sich der Kaminschacht am hinteren Ende der Mündung nicht ausmachen, ein schmaler Schacht, der es aber einer einzelnen Person erlaubte, mit eng angezogenen Knien im Schutz der Dunkelheit dort auszuharren. Damit das Versteck perfekt funktionierte, überlegte Reiter in der Einsamkeit seiner Isba, brauchte es jedoch zwei Personen: Eine, die sich versteckte, und eine, die draußen blieb, einen Topf Suppe aufsetzte, dann im Ofen Feuer machte und es immer wieder schürte.
Tagelang beschäftigte
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