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ihn dieses Problem, da er glaubte, seine Lösung würde das Leben oder die Denkungsart oder das Ausmaß der Verzweiflung verständlicher machen, mit der Boris Ansky oder jemand, den Boris Ansky gut kannte, zu kämpfen hatte. Mehrfach versuchte er, das Feuer von innen zu entzünden. Es gelang ihm nur einmal. Einen Topf mit Wasser hineinzuhängen oder den Samowar neben die Holzscheite zu stellen erwies sich als unlösbare Aufgabe, so dass er zu dem Schluss kam, dass derjenige, der den Schlupfwinkel gebaut hatte, davon ausgegangen war, dass sich irgendwann irgendwer hier verstecken und eine zweite Person ihm dabei helfen würde. Einer, der gerettet wird, dachte Reiter, und einer, der rettet. Einer, der leben, und einer, der sterben wird. Einer, der bei Einbruch der Nacht fliehen, und einer, der dableiben und sich opfern wird. An manchen Nachmittagen kroch er in das Versteck, nur mit Anskys Aufzeichnungen und einer Kerze, und blieb dort bis spät in die Nacht, bis seine Muskeln verkrampften und er halb erfroren war, und las und las.
Boris Abramowitsch Ansky kam im Jahr 1909 in Kostekino zur Welt, im gleichen Haus, in dem jetzt der Soldat Reiter wohnte. Wie fast alle Dorfbewohner waren seine Eltern Juden und lebten vom Handel mit Hemden, die der Vater en gros in Dnjepropetrowsk und gelegentlich in Odessa einkaufte und dann in alle Dörfer der Region weiterverkaufte. Die Mutter züchtete Hühner und verkaufte Eier, und Gemüse mussten sie nicht kaufen, denn sie besaßen einen kleinen, aber sorgsam bestellten Garten. Sie hatten nur ein Kind bekommen, Boris, und auch erst in reiferem Alter, wie Abraham und Sara in der Bibel, was sie mit Freude erfüllte.
Zuweilen, wenn Abraham mit seinen Freunden zusammensaß, witzelte er darüber und sagte, wenn er sehe, wie verwöhnt der Junge sei, denke er manchmal, er hätte ihn besser opfern sollen, als er noch klein war. Die Orthodoxen im Dorf regten sich auf oder taten so, als regten sie sich auf, und die anderen lachten unverhohlen, als Abraham Ansky schloss: Aber statt ihn zu opfern, opferte ich ein Huhn! Ein Huhn! Weder ein Lamm noch meinen Erstgeborenen, sondern ein Huhn! Das Huhn, das goldene Eier legt!
Mit vierzehn trat Boris Ansky in die Rote Armee ein. Der Abschied von seinen Eltern war ergreifend. Erst fing der Vater jämmerlich an zu heulen, dann die Mutter, und zum Schluss fiel Boris ihnen um den Hals und heulte ebenfalls. Die Reise nach Moskau war unvergesslich. Auf dem Weg sah er unglaubliche Gesichter, hörte unglaubliche Unterhaltungen und Selbstgespräche, las an den Wänden unglaubliche Proklamationen, die den Anbruch des Paradieses verkündeten, und alles, worauf er stieß, während er zu Fuß ging oder im Zug saß, ging ihm leidenschaftlich nahe, denn es war das erste Mal, dass er sein Dorf verließ, wenn man von zwei Verkaufsfahrten in die Umgebung absah, auf denen er seinen Vater begleitet hatte. In Moskau begab er sich zu einer Rekrutierungsstelle, und als er sich freiwillig melden wollte, um gegen Wrangel zu kämpfen, sagte man ihm, Wrangel sei bereits besiegt. Daraufhin sagte Ansky, dann melde er sich freiwillig, um gegen die Polen zu kämpfen, aber man sagte ihm, die Polen seien bereits besiegt. Da rief Ansky, er melde sich freiwillig, um gegen Krasnow und Denikin zu kämpfen, aber man sagte ihm, Krasnow und Denikin seien bereits besiegt. Daraufhin sagte Ansky, gut, dann melde er sich freiwillig, um gegen die weißen Kosaken oder gegen die Tschechen oder gegen Koltschak oder gegen Judenitsch oder gegen die alliierten Truppen zu kämpfen, aber man sagte ihm, die seien alle schon besiegt. Die Nachrichten kommen spät in deinem Dorf an, sagten sie. Und fragten: Woher kommst du, Junge? Und Ansky antwortete, aus Kostekino am Dnjepr. Daraufhin fragte ihn ein alter, pfeiferauchender Soldat nach seinem Namen und ob er Jude sei. Und Ansky sagte ja, er sei Jude, und schaute ihn an, und da erst bemerkte er, dass er nur ein Auge hatte und ihm außerdem ein Arm fehlte.
»Ich hatte einen jüdischen Kameraden, im Feldzug gegen die Polen«, sagte der Alte, und dabei quoll ihm der Rauch aus dem Mund.
»Wie hieß er?«, fragte Ansky, »vielleicht kenne ich ihn?«
»Kennst du etwa alle Juden im Land der Sowjets, Junge?«, fragte der einäugige und einarmige Soldat.
»Nein, natürlich nicht«, sagte Ansky und wurde rot.
»Er hieß Dimitri Werbitsky«, sagte der Einäugige von seiner Ecke aus, »und starb hundert Kilometer vor Warschau.«
Dann drehte sich der Einäugige
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