Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
Vom Netzwerk:
Tschechows und Gorkis zu schreiben, hatte also versucht, sie zu imitieren, ohne viel Erfolg, weshalb er lange nachdachte (eine ganze Sommernacht lang) und dann listig beschloss, fortan in der Manier Odojewskis und Laschetschnikows zu schreiben. Fünfzig Prozent Odojewski und fünfzig Prozent Laschetschnikow. Es lief nicht schlecht für ihn, zum einen, weil die Leser mit der für sie typischen Gedächtnisschwäche den armen Odojewski (geboren 1803, gestorben 1869) und den armen Laschetschnikow (geboren 1792, gestorben wie Odojewski 1869) schon vergessen hatten, zum anderen, weil die bekannt scharfsinnige Kritik nicht bis drei zählen, geschweige denn zwei und zwei zusammenzählen konnte und nichts merkte.
    1910 war Iwanow, was man einen verheißungsvollen Schriftsteller nennt, einer, von dem man sich große Dinge versprach, aber mehr gaben Odojewski und Laschetschnikow als Strickmuster nicht her, und Iwanows künstlerische Produktion geriet ins Stocken oder erlitt einen Einbruch, je nach Blickwinkel, und auch ein neues Mischungsverhältnis, auf das er in letzter Not verfiel, machte sie nicht wieder flott: die Kombination des Hoffmannianers Odojewski und des Walter-Scott-Verehrers Laschetschnikow mit dem aufgehenden Stern Gorki. Seine Erzählungen, das musste er einsehen, interessierten niemanden mehr, und seine Hauswirtschaft, vor allem aber sein Stolz bekam arge Risse. Bis zur Revolution arbeitete Iwanow sporadisch als Korrektor für wissenschaftliche und landwirtschaftliche Journale, als Glühbirnenverkäufer, als Hilfskraft in einer Anwaltskanzlei, ohne darüber seine Arbeit für die Partei zu vernachlässigen, für die er alles tat, was zu tun war, vom Verfassen und Drucken von Flugblättern bis zur Papierbeschaffung und der Arbeit als Verbindungsmann für geistesverwandte Schriftsteller und Weggefährten. Das alles tat er, ohne zu murren und ohne seine eingefleischten Gewohnheiten aufzugeben: den täglichen Besuch der Lokale, in denen sich die Moskowiter Boheme traf, und den Wodka.
    Der Sieg der Revolution verbesserte weder seine literarischen noch seine beruflichen Aussichten, eher im Gegenteil, die Arbeit verdoppelte sich, nicht selten verdreifachte sie sich, vervierfachte sich sogar manchmal, aber Iwanow tat seine Pflicht, ohne zu murren. Eines Tages baten sie ihn um eine Geschichte, die vom Leben im Russland des Jahres 1940 handeln sollte. Innerhalb von drei Stunden schrieb Iwanow seine erste Science-Fiction-Erzählung. Sie hieß Der Ural-Express, und darin erzählte ein Junge, der mit einem Zug unterwegs war, dessen Durchschnittsgeschwindigkeit zweihundert Stundenkilometer betrug, mit eigenen Worten, was gerade draußen an ihm vorbeiflog: Blitzblanke Fabriken, wohl bestellte Felder, nagelneue Musterdörfer bestehend aus zwei oder drei Gebäuden mit mehr als zehn Stockwerken, von fröhlichen, ausländischen Delegationen besucht, die sich ein Bild von den erreichten Fortschritten machen wollten, um sie später in ihren eigenen Ländern einzuführen. Der Junge im Ural-Express sollte seinen Großvater besuchen, einen alten Haudegen der Roten Armee, der, nachdem er in ungewöhnlich hohem Alter seinen Universitätsabschluss gemacht hatte, jetzt ein Forschungslabor leitete, dessen Arbeit größter Geheimhaltung unterlag. Während sie Hand in Hand den Bahnhof verließen, erzählte der Großvater, ein energischer Mann, der kaum älter als vierzig wirkte, obwohl er deutlich älter war, dem Jungen von seinen jüngsten Fortschritten, aber der Enkel, schließlich noch ein Kind, drängte den Großvater, ihm von der Revolution und dem Krieg gegen die Weißen und die ausländische Intervention zu erzählen, ein Wunsch, dem der Großvater, schließlich ein alter Mann, gerne nachkam. Das war alles. Die Aufnahme der Erzählung durch die Leser war ein Ereignis.
    Der Erste, den das überraschte, war, man muss es sagen, der Autor selbst. Der Zweite war der Chefredakteur, der die Erzählung mit spitzem Bleistift gelesen hatte, um Tippfehler zu korrigieren, und der sie nicht besonders toll fand. Die Redaktion erhielt Briefe, in denen Leser um weitere Beiträge von diesem »unbekannten Iwanow«, diesem »vielversprechenden Iwanow« baten, »einem Schriftsteller, der an das Morgen glaubt«, »einem Autor, der Vertrauen in die Zukunft weckt, für die wir kämpfen«, Briefe, die aus Moskau und Petersburg eintrafen, aber auch von Kämpfern und Aktivisten aus den hintersten Winkeln des Landes, die sich in der Figur des Großvaters

Weitere Kostenlose Bücher