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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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wiedererkannten, was dem Chefredakteur, einem dialektischen, methodischen, materialistischen und überhaupt nicht dogmatischen Marxisten schlaflose Nächte bereitete, einem Marxisten, der als guter Marxist neben Marx auch Hegel und Feuerbach (und sogar Kant) studiert hatte, der jedes Mal neu über Lichtenberg lachen konnte, der Montaigne und Pascal gelesen hatte, der sich in Fouriers Schriften ganz passabel auskannte und der einfach nicht glauben wollte, dass von den vielen guten (oder zumindest zahlreichen guten) Sachen, die die Zeitung veröffentlicht hatte, ausgerechnet Iwanows rührselige, wissenschaftlich haltlose Erzählung die Bürger im Land der Sowjets am meisten begeistert haben sollte.
    Irgendwas läuft schief, dachte er. Zur schlaflosen Nacht des Chefredakteurs gesellte sich natürlich die Nacht von hurra und Wodka bei Iwanow, der seinen Erfolg zunächst in den übelsten Spelunken Moskaus und anschließend im Haus des Schriftstellers feiern wollte, wo er mit vier Freunden zu Abend aß, die aussahen wie die vier Reiter der Apokalypse. Von diesem Moment an verlangte man nur noch Science-Fiction-Geschichten von Iwanow, der sich dabei eng an seinen ersten, gleichsam versehentlich entstandenen Text hielt und das Rezept mit leichten Abwandlungen immer wieder aufkochte, sich darüber hinaus aus dem reichen Fundus der russischen Literatur und einiger chemischer, biologischer, medizinischer und astronomischer Publikationen bediente, die er in seinem Zimmer hortete wie der Wucherer die Wechsel, Kreditbriefe und fälligen Schecks. Auf diese Weise wurde sein Name bis in den letzten Winkel der Sowjetunion bekannt, und in kürzester Zeit etablierte er sich als professioneller Schriftsteller, als einer, der ausschließlich von dem lebte, was seine Bücher abwarfen, der Kongresse und Konferenzen in Universitäten und Fabriken besuchte und um dessen Arbeiten sich Literaturzeitschriften und Magazine rissen.
    Aber alles altert, so auch die Masche mit der strahlenden Zukunft plus Held, der in der Vergangenheit am Aufbau dieser strahlenden Zukunft mitgewirkt hat, plus kleiner Junge oder kleines Mädchen, über die sich in der Zukunft - der Gegenwart seiner Erzählungen das Füllhorn ihrer Segnungen und der kommunistischen Findigkeit ergießt. Als Ansky Iwanow kennenlernte, hatte er als Kassenschlager bereits ausgedient, und seine Romane und Erzählungen, die viele kitschig und unerträglich fanden, riefen längst nicht mehr die Begeisterung hervor wie einst. Aber Iwanow schrieb nach wie vor, wurde nach wie vor veröffentlicht und kassierte für seine arkadischen Visionen nach wie vor ein monatliches Salär. Noch immer war er Mitglied der Partei. Gehörte dem Bund Revolutionärer Schriftsteller an. Sein Name stand auf den offiziellen Listen sowjetischer Kunstschaffender. Äußerlich betrachtet war er ein glücklicher Mensch, war unverheiratet, besaß eine große, komfortable Wohnung in einem der besseren Moskauer Viertel, schlief von Zeit zu Zeit mit nicht mehr ganz so jungen Prostituierten, sang und heulte hinterher mit ihnen und aß wenigstens viermal pro Woche im Restaurant der Schriftsteller und Dichter zu Mittag.
    Tief im Innern jedoch fühlte Iwanow, dass ihm etwas fehlte. Der entscheidende Schritt, das Wagnis. Der Moment, in dem die Larve sich mit einem verlorenen Lächeln in einen Schmetterling verwandelte. Da tauchte der junge Jude Ansky auf, mit seinen ungereimten Ideen, seinen sibirischen Vorstellungen, seinen Ausflügen in gottverlassene Gebiete, dem wilden Erfahrungsschatz, wie nur ein Achtzehnjähriger ihn haben kann. Aber Iwanow war auch einmal achtzehn gewesen und hatte nicht ansatzweise etwas erlebt wie das, was Ansky erzählte. Vielleicht liegt es daran, dass er Jude ist und ich nicht, dachte er. Rasch verwarf er den Gedanken. Vielleicht liegt es an seiner Unwissenheit, dachte er. An seinem impulsiven Charakter. An seiner Verachtung der Normen, die das Leben, sogar das bürgerliche Leben, bestimmen, dachte er. Und dann dachte er daran, wie widerwärtig jugendliche Künstler oder Pseudokünstler waren, wenn man sie von nahem betrachtete. Er dachte an Majakowski, den er persönlich kannte, mit dem er sich ein- oder zweimal unterhalten hatte, und an seine enorme Eitelkeit, eine Eitelkeit, die wahrscheinlich seine mangelnde Nächstenliebe kaschierte, die Verachtung für seinen Nächsten, seine maßlose Ruhmsucht. Dann dachte er an Lermontow und Puschkin, aufgeblasen wie Filmstars oder Opernsänger. Nijinsky.

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