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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Gurow. Nadson. Blok (den er persönlich kannte und unerträglich fand). Hemmschuhe für die Kunst, dachte er. Sie halten sich für Sonnen und verbrennen alles, dabei sind sie keine Sonnen, nur irrlichternde Meteoriten, denen im Grunde niemand Beachtung schenkt. Sie demütigen, aber sie verbrennen nicht. Und am Ende sind stets sie selbst die Gedemütigten, aber richtig gedemütigt, mit Füßen getreten und bespuckt, verdammt und verstümmelt, richtig gedemütigt, damit sie es sich merken, ordentlich gedemütigt.
    Ein wahrer Künstler, ein wahrhaft künstlerischer und schöpferischer Mensch war in Iwanows Augen zuallererst ein Mensch mit Verantwortungsgefühl und einer gewissen Reife. Der wahre Schriftsteller musste zuhören und im richtigen Moment handeln können. Er musste in Maßen opportunistisch und in Maßen gebildet sein. Übermäßige Bildung weckt Neid und Groll. Übermäßiger Opportunismus weckt Misstrauen. Ein wahrer Schriftsteller musste mit Maßen in sich ruhen und über gesunden Menschenverstand verfügen. Er durfte weder zu laut sprechen noch Streit vom Zaun brechen. Er musste in Maßen sympathisch sein und sich darauf verstehen, sich nicht unnötig Feinde zu machen. Vor allem durfte er nicht laut werden, es sei denn, alle wurden laut. Ein wahrer Schriftsteller musste wissen, dass hinter ihm der Schriftstellerverband stand, die Künstlergewerkschaft, die Union der Literaturschaffenden, das Haus des Dichters. Was tut man als Erstes, wenn man eine Kirche betritt? fragte sich Ephraim Iwanow. Man nimmt den Hut ab. Gestehen wir ihm zu, dass er sich nicht bekreuzigt. Gut, soll er sich nicht bekreuzigen. Wir sind modern. Aber zumindest könnte er den Kopf entblößen! Die jugendlichen Schriftsteller dagegen betraten eine Kirche und nahmen die Hüte nicht ab, selbst wenn sie dafür verdroschen wurden, was am Ende leider Gottes auch geschah. Und sie nahmen nicht nur die Hüte nicht ab: Sie lachten, gähnten, machten Schweinereien, ließen einen fahren. Einige klatschten sogar Beifall.
    Was Ansky anzubieten hatte, war jedoch zu verlockend, als dass Iwanow es hätte ablehnen können, allen Vorbehalten zum Trotz. Wie es schien, wurde der Pakt in der Wohnung des Science-Fiction-Autors geschlossen.
    Einen Monat später trat Ansky in die Partei ein. Seine Paten waren Iwanow und Margarita Afanasiewna, eine frühere Geliebte Iwanows, die als Biologin in einem Moskauer Institut arbeitete. In Anskys Papieren wird dieser Tag mit einer Hochzeit verglichen. Gefeiert wurde im Restaurant der Schriftsteller, und anschließend zog man durch mehrere Moskauer Spelunken, im Schlepptau Afanasiewna, die wie ein Bürstenbinder soff, in dieser Nacht bis an den Rand des Komas. In einer der Spelunken, Iwanow und zwei andere Autoren, die sich ihnen angeschlossen hatten, sangen gerade von verlorener Liebe, von Augen, die man nie wiedersehen, von gurrenden Worten, die man nie wieder hören würde, wachte Afanasiewna auf und umfasste mit ihrer kleinen Hand durch die Hose hindurch Anskys Schwanz und Hoden.
    »Jetzt, wo du Kommunist bist«, sagte sie, ohne ihn direkt anzusehen, den Blick auf einen unbestimmten Punkt zwischen Bauchnabel und Hals geheftet, »brauchst du welche aus Stahl.«
    »Ach wirklich?«, sagte Ansky.
    »Über mich machst du dich nicht lustig«, lallte Afanasiewna. »Ich habe dich durchschaut. Auf den ersten Blick wusste ich, wer du bist.«
    »Und wer bin ich?«, fragte Ansky.
    »Ein jüdischer Rotzlöffel, der die Wirklichkeit mit seinen Sehnsüchten verwechselt.«
    »Die Wirklichkeit«, flüsterte Ansky, »ist manchmal Sehnsucht pur.«
    Afanasiewna lachte.
    »Und wie braut man das zusammen?«, fragte sie.
    »Indem man das Feuer nicht aus den Augen lässt, Genossin«, flüsterte Ansky, »denk zum Beispiel nur an gewisse Leute.«
    »An welche Leute?«, fragte Afanasiewna.
    »An Kranke«, sagte Ansky. »An Schwindsüchtige, zum Beispiel. Aus Sicht der Ärzte sind sie Todgeweihte, daran besteht kein Zweifel. Aber aus Sicht der Schwindsüchtigen ist besonders in manchen Nächten, an manchen langen Abenden, die Sehnsucht die Wirklichkeit und umgekehrt. Oder denk an die Impotenten.«
    »Inwiefern impotent?«, fragte Afanasiewna, ohne Anskys Genitalien loszulassen.
    »Sexuell impotent natürlich«, flüsterte Ansky.
    »Aha!«, rief Afanasiewna und kicherte sarkastisch.
    »Die Impotenten«, flüsterte Ansky, »leiden ähnlich wie die Schwindsüchtigen, und sie haben Sehnsüchte. Eine Sehnsucht, die nicht nur an die Stelle der

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