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Wirklichkeit tritt, sondern die sie sich unterwirft.«
»Du glaubst«, fragte Afanasiewna, »die Toten haben sexuelle Sehnsüchte?«
»Die Toten nicht«, sagte Ansky, »aber die lebenden Toten schon. Als Soldat in Sibirien kannte ich einen Jäger, dem man die Geschlechtsorgane abgerissen hatte.«
»Geschlechtsorgane!«, witzelte Afanasiewna.
»Schwanz und Hoden«, sagte Ansky. »Er pinkelte durch einen Strohhalm, im Sitzen oder im Knien, sozusagen rittlings.«
»Schon klar«, sagte Afanasiewna.
»Dieser Mann also, der auch schon nicht mehr jung war, ging in regelmäßigen Abständen, bei jedem Wind und Wetter, hinaus in den Wald, um seinen Schwanz und seine Hoden zu suchen. Alle dachten, er werde eines Tages umkommen, vom Schnee überrascht, aber er kehrte immer ins Dorf zurück, manchmal nach monatelanger Abwesenheit und immer mit der gleichen Nachricht: Er habe sie nicht gefunden. Eines Tages beschloss er, nicht mehr loszuziehen. Mit einem Schlag schien er zu altern: Er mochte etwa fünfzig gewesen sein, doch am nächsten Morgen sah er aus wie achtzig. Meine Einheit verließ das Dorf. Als wir vier Monate später wieder dort vorbeikamen, fragten wir, was aus dem Mann ohne die fraglichen Eigenschaften geworden sei. Man sagte uns, er habe geheiratet und führe ein glückliches Leben. Einer meiner Kameraden und ich wollten ihn persönlich sehen: Wir trafen ihn bei den Vorbereitungen zu einem weiteren langen Aufenthalt im Wald. Er sah nicht mehr aus wie achtzig, sondern wie fünfzig. Vielleicht sogar nicht einmal wie fünfzig, sondern an manchen Stellen, den Augen, den Lippen, dem Unterkiefer, wie vierzig. Als wir nach zwei Tagen weiterzogen, kam mir der Gedanke, dass es dem Jäger offenbar gelungen war, der Wirklichkeit seine Sehnsucht aufzuzwingen, die auf ihre Weise seine Umgebung, das Dorf, seine Bewohner, den Wald, den Schnee, den Verlust von Schwanz und Hoden verwandelt hatte. Im Geist sah ich ihn kniend pinkeln, sah ihn nach Norden ziehen, in die weißen Wüsten, in weiße Stürme und Gestöber, den Rucksack voller Fallen und ohne jedes Bewusstsein dessen, was wir Schicksal nennen.«
»Eine nette Geschichte«, sagte Afanasiewna, während ihre Hand Anskys Genitalien freigab. »Nur leider bin ich zu alt und habe zu viel erlebt, um sie zu glauben.«
»Es geht nicht darum, zu glauben«, sagte Ansky, »sondern darum, zu verstehen und dann zu verändern.«
Von diesem Moment an nahmen die Lebenswege Anskys und Iwanows einen zumindest dem Anschein nach unterschiedlichen Verlauf.
Der junge Jude entfaltete fieberhafte Aktivitäten. 1929, im Alter von zwanzig Jahren, beteiligte er sich zum Beispiel an der Gründung mehrerer Zeitschriften in Moskau, Leningrad, Smolensk, Kiew und Rostow, in denen nie eine Zeile von ihm selbst erschien. Er war Gründungsmitglied des Theaters der Imaginären Stimmen. Er versuchte einen Verlag für einige postume Schriften von Chlebnikow zu finden. Als Journalist einer Zeitung, die nie das Licht der Welt erblickte, interviewte er die Generäle Tuchatschewski und Blücher. Er hatte eine Geliebte, die Ärztin Maria Samjatina, zehn Jahre älter als er und verheiratet mit einem hohen Parteifunktionär. Er freundete sich mit Grigorij Jakowin an, einem genauen Kenner der neueren deutschen Geschichte, mit dem er lange Straßengespräche über die deutsche Sprache und das Jiddische führte. Er lernte Sinowjew kennen. Er schrieb auf Deutsch ein schwülstiges Gedicht über Trotzkis Deportation. Ebenfalls auf Deutsch schrieb er eine Reihe von Aphorismen unter dem Titel Betrachtungen zum Tod von Ewgenia Bosch, Letzteres das Pseudonym von Ewgenia Gotlibowna (1879-1924), einer führenden Bolschewikin, über die Pierre Broué schrieb: »Schließt sich 1900 der Partei an, 1903 den Bolschewiki. Wird 1913 verhaftet und deportiert, kann 1915 entkommen, flieht in die USA, kooperiert mit Pjatakow und Bucharin, bezieht in der nationalen Frage eine Gegenposition zu Lenin. Spielt bei ihrer Rückkehr im Anschluss an die Februarrevolution eine führende Rolle beim Aufstand von Kiew und im Bürgerkrieg. Mitunterzeichnerin der Erklärung der 46. Begeht 1924 aus Protest Selbstmord.« Sodann schrieb er in einem grobschlächtigen, fehlerhaften Jiddisch ein hymnisches Gedicht auf Iwan Rajia (1887-1920), einen der Gründer der Kommunistischen Partei Finnlands, ermordet wahrscheinlich von den eigenen Genossen bei einem Streit um die Führung. Er las die Futuristen, die Gruppe um die Zeitschrift Zentrifuge, die
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