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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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sei außerordentlich hart und die Umstände, sobald er in Peking ankäme, möglicherweise gefährlich, da es viele Leute gebe, die nicht wollten, dass irgendeine Botschaft des Kommunistenführers ins Ausland gelange. Trotz der Warnung nimmt der Junge den Auftrag an. Als er nach vielen Mühen endlich in dem Keller steht, wo sich der Chinese versteckt hält, beschließt der Junge, ihn nicht nur zu interviewen, sondern ihm auch zu helfen, das Land zu verlassen. Das von einer Kerze beleuchtete Gesicht des Chinesen besitzt eine auffallende Ähnlichkeit mit dem des mexikanischen Detektivs und Exsoldaten Pancho Villas. Nicht lange jedoch und beide, der Chinese und der Junge, erkranken an der gleichen, durch die Ausdünstungen des Kellers verursachten Krankheit. Sie haben Fieber, schwitzen, reden, phantasieren, der Chinese behauptet, er sehe Drachen im Tiefflug durch Pekings Straßen fliegen, der Junge behauptet, er sehe eine Schlacht, vielleicht auch nur ein Scharmützel, und schreit hurra und ruft seinen Kameraden zu, im Ansturm nur ja nicht zu erlahmen. Später liegen beide lange unbeweglich und wie tot da und halten durch, bis der Tag der Flucht gekommen ist.
    Mit neununddreißig Grad Fieber durchqueren der Chinese und der Russe Peking und entkommen. Auf dem Land warten auf sie zwei Pferde und etwas Proviant. Der Chinese ist noch nie geritten. Der junge zeigt ihm, wie das geht. Auf ihrer Flucht passieren sie einen Wald und dann gewaltige Berge. Das Leuchten der Sterne am Himmel wirkt übernatürlich. Der Chinese fragt sich: Wie wurden die Sterne geschaffen? Wo endet das Universum? Wo beginnt es? Der junge hört ihn und erinnert sich dunkel an eine Wunde an der Seite, deren Narbe noch immer schmerzt, an die Dunkelheit, an eine Reise. Er erinnert sich auch an die Augen einer Hypnotiseurin, obwohl die Gesichtszüge der Frau verborgen bleiben, sich verändern. Wenn ich die Augen schließe, denkt der junge, treffe ich sie wieder. Aber er schließt sie nicht. Sie reiten über ein riesiges verschneites Feld. Die Hufe der Pferde versinken im Schnee. Der Chinese singt. Wie sind die Sterne entstanden? Was sind wir inmitten der Unergründlichkeit des Alls? Welche Erinnerung wird an uns bleiben?
    Plötzlich fallt der Chinese vom Pferd. Der junge Russe untersucht ihn. Der Chinese steht wie in Flammen. Der Junge berührt die Stirn des Chinesen und dann seine eigene und stellt fest, dass das Fieber sie beide verbrennt. Mit einiger Mühe bindet er den Chinesen auf seinem Reittier fest und setzt den Weg fort. Vollkommene Stille herrscht in der verschneiten Weite. Die Nacht und das Ziehen der Sterne am Himmelsrund wollen kein Ende nehmen. In der Ferne scheint sich ein riesiger schwarzer Schatten vor die Dunkelheit zu schieben. Es ist eine Gebirgskette. Im Kopf des jungen nimmt die sichere Möglichkeit Gestalt an, in den nächsten Stunden auf dem verschneiten Feld oder beim Überqueren der Berge zu sterben. Eine innere Stimme bestürmt ihn, die Augen zu schließen, wenn er die Augen schlösse, würde er die Augen und das geliebte Gesicht der Hypnotiseurin sehen. Sie sagt, wenn er die Augen schlösse, würde er in die Straßen von New York zurückkehren, würde er zur Wohnung der Hypnotiseurin zurückfinden, die dort in einem Sessel im Halbdunkel sitzend auf ihn warte. Aber der Russe schließt die Augen nicht und reitet weiter.
    Nicht nur Gorki las Die Dämmerung. Auch andere berühmte Leute taten das, und selbst wenn sie dem Autor nicht in Briefen ihre Bewunderung ausdrückten, seinen Namen vergaßen sie bestimmt nicht, denn sie waren nicht nur berühmte Leute, sie hatten obendrein ein gutes Gedächtnis.
    Ansky zitiert in einem gleichsam schwindelerregenden Crescendo vier von ihnen: Professor Stanislaw Strumilin las den Roman und fand ihn konfus. Der Schriftsteller Alexei Tolstoi las ihn und fand ihn chaotisch. Andrei Schdanow las ihn und legte ihn nach der Hälfte beiseite. Und Stalin las ihn und fand ihn verdächtig. Selbstverständlich kam nichts davon dem braven Iwanow zu Ohren, der Gorkis Brief rahmte und ihn gut sichtbar für seine mit jedem Tag zahlreicheren Besucher an die Wand hängte.
    Sein Leben erfuhr übrigens bemerkenswerte Veränderungen. Man wies ihm eine Datsche außer halb Moskaus zu. Manchmal wurde er in der Metro um ein Autogramm gebeten. Jeden Abend war im Restaurant der Schriftsteller für ihn ein Tisch reserviert. Er verbrachte seine Urlaube in Jalta, in Gesellschaft ähnlich berühmter Kollegen. Ach, die Abende im

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