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ich damals für ein verlorenes und in letzter Minute gerettetes Leben hielt.
Also bat Archimboldi bei der Arbeit um Urlaub und fuhr mit dem Zug nach Hamburg.
Der Verlag von Herrn Bubis befand sich im selben Gebäude wie vor 1933. Die beiden Nachbarhäuser waren von Bomben zerstört worden, desgleichen mehrere Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Einige Angestellte des Verlags sagten, natürlich hinter vorgehaltener Hand, Herr Bubis höchstpersönlich habe die Luftangriffe auf die Stadt geleitet. Oder zumindest die auf dieses Viertel. Als Archimboldi ihn kennenlernte, war Bubis vierundsiebzig, und man hätte ihn manchmal für einen jähzornigen, geizigen, misstrauischen Menschen halten können, einen Kaufmann, dem die Literatur wenig oder nichts bedeutete, doch die meiste Zeit zeigte er sich von ganz anderer Gemütsart: Jacob Bubis besaß - oder erweckte zumindest den Anschein, er besäße - eine blühende Gesundheit. Er wurde nie krank, hatte immer und für alles ein Lächeln übrig, zeigte sich vertrauensvoll wie ein kleines Kind und war nicht geizig, wenn man auch nicht behaupten konnte, dass er seine Angestellten fürstlich entlohnte.
Im Verlag arbeiteten neben Bubis, der in allem seine Finger hatte, eine Lektorin, eine Buchhalterin, die auch den Kontakt zur Presse hielt, eine Sekretärin, die der Lektorin und der Buchhalterin zur Hand ging, und ein Lagerist, den man nur selten im Lager antraf, das sich im Keller des Hauses befand, einem Keller, in dem Bubis ständig umräumen musste, da er bei starken Regenfällen volllief, auch stieg, wie der Lagerist erklärte, manchmal das Grundwasser und schlug sich in Form großer feuchter Flecken im Keller nieder, was für die Bücher und die Gesundheit dessen, der dort arbeitete, äußerst schädlich war.
Außer den vier Mitarbeitern traf man im Verlag meist auch eine würdevoll auftretende Dame, die ungefähr in Bubis Alter oder sogar etwas älter war und bis 1933 für ihn gearbeitet hatte, Marianne Gottlieb, die treueste Angestellte des Verlags, von der es heißt, sie sei sogar den Wagen gefahren, der Bubis und seine Frau zur holländischen Grenze gebracht habe, von wo aus sie, nachdem Grenzpolizisten das Fahrzeug untersucht und nichts gefunden hatten, nach Amsterdam weiterfuhren.
Wie hatten Bubis und seine Frau es geschafft, die Grenzer zu überlisten? Keiner wusste es, aber das Verdienst wurde in allen Versionen der Geschichte stets Frau Gottlieb zugeschrieben.
Als Bubis nach Hamburg zurückkehrte, im September 1945, lebte Frau Gottlieb in fürchterlichster Armut, und Bubis, mittlerweile verwitwet, nahm sie zu sich ins Haus. Nach und nach begann Frau Gottlieb sich zu erholen. Zunächst erholte sich ihr Verstand. Eines Morgens sah sie Bubis und erkannte in ihm ihren ehemaligen Chef, sagte aber nichts. Am Abend, als Bubis vom Rathaus heimkehrte - er arbeitete damals auf politischer Ebene -, fand er das Essen angerichtet und Frau Gottlieb, die neben dem Tisch stand und auf ihn wartete. Es wurde ein glücklicher Abend für beide, für Bubis und Frau Gottlieb, obwohl das Essen mit Erzählungen von Exil und vom Tod der Frau Bubis und bitteren Tränen wegen ihres einsamen Grabs auf dem jüdischen Friedhof von London zu Ende ging.
Später erholte sich Frau Gottlieb auch gesundheitlich ein wenig, und sie nutzte das, um in eine kleine Wohnung zu ziehen, die Ausblick auf einen verwüsteten Park bot, dem die Natur, die dem Treiben der Menschen meist gleichgültig gegenübersteht, im nächsten Frühjahr aber wieder frisches Grün schenken würde. Oder auch nicht, wie der skeptische Herr Bubis meinte, der das Unabhängigkeitsstreben von Frau Gottlieb respektierte, aber nicht guthieß. Bald darauf bat sie ihn, ihr bei der Suche nach einer Arbeit zu helfen, da das Nichtstun ihr unerträglich sei. Daraufhin machte Bubis sie zu seiner Sekretärin. Aber Frau Gottlieb hatte, obwohl sie nie darüber sprach, auch ihren Anteil Alptraum und Hölle abbekommen, und manchmal versagte ohne ersichtlichen Grund ihre Gesundheit, und sie erkrankte genauso schnell, wie sie sich anschließend erholte. Ein andermal war es ihr Verstand, der ins Straucheln geriet. Es kam vor, dass Bubis sich an einem bestimmten Ort mit den englischen Militärbehörden zu einer Unterredung treffen musste und sie ihn ans andere Ende der Stadt schickte. Oder sie arrangierte für ihn Verabredungen mit verkappten, unbelehrbaren Nazis, die der Hamburger Bürgerschaft ihre Dienste anboten. Oder sie schlief
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