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2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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eine fürchterliche Strafe, die Sisyphos' Verbrechen oder Sünden überstieg und eher ein Racheakt von Zeus war, denn, so wird erzählt, Letzterer kam einmal mit einer Nymphe, die er vergewaltigt hatte, durch Korinth, und Sisyphos, der intelligenter war als die Polizei erlaubt, bekam das spitz, und als später Asopos, der Vater des Mädchens, auf der verzweifelten Suche nach seiner Tochter vorbeikam, erbot sich Sisyphos, als er ihn sah, ihm den Namen des Vergewaltigers zu verraten, wenn Asopos im Gegenzug in der Stadt Korinth eine Quelle entspringen ließe, was beweist, dass Sisyphos kein schlechter Bürger war, oder auch bloß, dass er Durst hatte, jedenfalls ging Asopos darauf ein, es entsprang eine Quelle kristallklaren Wassers, und im Gegenzug verriet Sisyphos den Göttervater, der ihm, fuchsteufelswild, postwendend Thanatos, den Tod, auf den Hals hetzte, der Sisyphos jedoch nicht gewachsen war, denn mit einem genialen Schachzug, der seinem Witz und seiner findigen Intelligenz keine Schande machte, fing und fesselte er Thanatos, eine Meisterleistung, zu der sehr wenige, wirklich sehr wenige das Zeug hatten, und hielt Thanatos lange Zeit gefangen, eine Zeit, während der kein einziger Mensch vom Antlitz der Erde verschwand, ein goldenes Zeitalter, in dem die Menschen, ohne dafür ihr Menschsein abzulegen, frei von der Last des Todes lebten, also frei von der Last der Zeit, denn Zeit war das, was es im Überfluss gab, möglicherweise das, was eine Demokratie auszeichnet, die überschüssige Zeit, der Mehrwert an Zeit, Zeit zum Lesen und Zeit zum Nachdenken, bis Zeus persönlich eingreifen und Thanatos befreien musste, woraufhin Sisyphos starb.
    Aber die Grimassen, die Junge zog, hatten nichts mit Sisyphos zu tun, dachte Bubis, eher mit einem unangenehmen nervösen Tick der Gesichtsmuskeln, na ja, kein furchtbar unangenehmer Tick, aber jedenfalls auch kein angenehmer, der ihm, Bubis, schon bei anderen Intellektuellen aufgefallen war, als hätten einige dieser Intellektuellen nach dem Krieg einen Nervenschock erlitten, der sich so äußerte, oder als seien sie während des Krieges einer unerträglichen Spannung ausgesetzt gewesen, die nach dem Waffenstillstand diese seltsame und harmlose Nachwirkung erzeugt hatte.
    »Was halten Sie von Archimboldi?« wiederholte Bubis.
    Junges Gesicht färbte sich rot wie der Abendhimmel, der hinter dem Hügel heraufzog, und dann grün wie die immergrünen Nadeln des Waldes.
    »Hm«, sagte er, »hm.« Und dann richtete sich sein Blick auf das Häuschen, als erwartete er, dass ihm von dort Inspiration oder Beredsamkeit oder eine irgendwie geartete Hilfe zuteil werden würde. »Um ganz offen zu sein«, sagte er. Und dann: »Ehrlich gesagt, meine Meinung ist nicht ...« Und schließlich: »Was soll ich sagen?«
    »Was Sie möchten«, sagte Bubis, »Ihre Meinung als Leser, Ihre Meinung als Kritiker.«
    »Gut«, sagte Junge. »Ich habe ihn gelesen, das steht fest.«
    Beide lächelten.
    »Aber er kommt mir nicht«, fügte er hinzu, »wie ein Autor vor ... Ich meine, er ist Deutscher, das ist unbestreitbar, seine Prosodie ist deutsch, ungehobelt zwar, aber deutsch, was ich sagen will, ist, dass er mir nicht wie ein europäischer Autor vorkommt.«
    »Wie ein amerikanischer vielleicht?«, sagte Bubis, der sich gerade mit dem Gedanken trug, die Rechte an drei Faulkner-Romanen zu erwerben.
    »Nein, amerikanisch auch nicht, eher afrikanisch«, sagte Junge und zog unter den Zweigen der Bäume erneut Grimassen. »Eigentlich sogar asiatisch«, brummelte der Kritiker.
    »Aus welchem Teil Asiens?«, wollte Bubis wissen.
    »Was weiß ich«, sagte Junge, »Indochina, Malaysia, in seinen besten Momenten klingt er persisch.«
    »Ja, die persische Literatur«, sagte Bubis, der von persischer Literatur in Wirklichkeit keine Ahnung hatte.
    »Malaiisch, malaiisch«, sagte Junge.
    Anschließend sprachen sie über andere Autoren des Verlags, denen der Kritiker mehr Wertschätzung und Interesse entgegenbrachte, und kehrten in den Garten zurück, von dem aus man den rötlichen Himmel sehen konnte. Kurze Zeit später verabschiedeten sich Bubis und die Baroness, begleitet von Gelächter und freundlichen Worten seitens der Anwesenden, die sie nicht nur zum Auto brachten, sondern an der Straße stehen blieben und winkten, bis Bubis' Wagen hinter der ersten Kurve verschwand.
    Spätabends, nachdem er sich mit gespieltem Erstaunen über das Missverhältnis zwischen Junge und seinem Häuschen ausgelassen hatte,

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