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erzählte Bubis der Baroness, kurz bevor er in ihrem Frankfurter Hotel ins Bett ging, dass dem Kritiker Archimboldis Bücher nicht gefielen.
»Ist das wichtig?«, fragte die Baroness, die den Verleger auf ihre Weise und unter Wahrung ihrer vollen Unabhängigkeit liebte und seine Meinung hochschätzte.
»Kommt drauf an«, sagte Bubis, der in Unterhosen am Fenster stand und durch einen winzigen Spalt im Vorhang hinaus in die Dunkelheit schaute. »Für uns ist es eigentlich nicht wichtig. Für Archimboldi dagegen sehr.«
Die Baroness antwortete etwas. Etwas, das Herr Bubis nicht mehr hörte. Draußen war alles dunkel, dachte er und zog den Vorhang leicht, nur ein kleines bisschen weiter auf. Er sah nichts. Nur sein Gesicht, das von Mal zu Mal faltigere und spitzere Gesicht von Jacob Bubis, und immer noch mehr Dunkelheit.
Es dauerte nicht lange, und Archimboldis viertes Buch traf im Verlag ein. Es trug den Titel Flüsse Europas, obwohl es im Wesentlichen um einen einzigen Fluss ging, den Dnjepr. Der Dnjepr bildete sozusagen die Hauptfigur des Buches, und die anderen Flüsse, die darin vorkamen, waren Teil des Chors. Bubis las das Buch an seinem Schreibtisch in einem Rutsch, und das Lachen, das ihn bei der Lektüre schüttelte, schallte durch den ganzen Verlag. Diesmal fiel der Vorschuss, den er Archimboldi schickte, höher aus als alle früheren Male, so hoch, dass Martha, die Sekretärin, bevor sie den Scheck nach Köln weiterleitete, in das Büro von Bubis trat, ihm den Scheck zeigte und fragte (nicht einmal, sondern zweimal), ob die Zahl korrekt sei, worauf Bubis antwortete, ja, das sei die korrekte Zahl, oder auch nicht, was soll's, eine Zahl, dachte er, als er wieder allein war, ist immer ein Annäherungswert, die korrekte Zahl gibt es nicht, nur die Nazis glaubten an die korrekte Zahl, und die Professoren für Elementarmathematik, die Fanatiker, die verrückten Pyramidenbauer, die Steuereintreiber (Gott mache ihnen den Garaus), die Zahlenmystiker, die aus einer Lappalie die Zukunft vorhersagten, glaubten an die korrekte Zahl. Dagegen wissen die Wissenschaftler, dass jede Zahl nur ein Annäherungswert ist. Die großen Physiker, die großen Mathematiker, die großen Chemiker und die Verleger wussten, dass man immer im Dunkeln tappte.
Zu jener Zeit wurde während einer Routineuntersuchung bei Ingeborg eine Lungenerkrankung festgestellt. Ingeborg sagte Archimboldi davon zunächst nichts und beschränkte sich darauf, in unregelmäßigen Abständen die Tabletten zu nehmen, die ihr ein nicht besonders heller Arzt verschrieben hatte. Als sie Blut zu spucken begann, schleppte Archimboldi sie zu dem englischen Arzt, der sie sofort zu einem deutschen Lungenspezialisten schickte. Dieser sagte, sie habe Tuberkulose, eine in Nachkriegsdeutschland recht weit verbreitete Krankheit.
Mit dem Geld, das er für Flüsse Europas bekommen hatte, zog Archimboldi auf Anraten des Spezialisten nach Kempten, einem Städtchen in den bayrischen Alpen, dessen kaltes und trockenes Klima der Gesundheit seiner Frau förderlich sein sollte. Ingeborg bekam eine Krankschreibung und Archimboldi gab seinen Job als Türsteher in der Bar auf. Ingeborgs Zustand erfuhr jedoch keine entscheidende Besserung, obwohl es eine glückliche Zeit war, die sie zusammen in Kempten verbrachten.
Die Tuberkulose machte Ingeborg keine Angst, denn sie war überzeugt, sie würde nicht an dieser Krankheit sterben. Archimboldi hatte seine Schreibmaschine mitgenommen, und binnen eines Monats, in dem er täglich acht Seiten schrieb, vollendete er seinen fünften Roman, der den Titel Bifurcaria bifurcata erhielt und, wie der Name sagt, von Algen handelte. An diesem Roman, auf den Archimboldi nicht mehr als drei, manchmal vier Stunden pro Tag verwendete, erstaunte Ingeborg am meisten die Geschwindigkeit, mit der er ihn schrieb, oder richtiger, die Fingerfertigkeit, die Archimboldi im Umgang mit der Schreibmaschine zeigte, die Routine einer erfahrenen Schreibmaschinistin, als wäre Archimboldi die Reinkarnation von Frau Dorothea, einer Sekretärin, der Ingeborg als kleines Mädchen begegnet war, als sie einmal ihren Vater aus ihr nicht erinnerlichen Gründen in das Berliner Amtsgebäude begleitet hatte, in dem er arbeitete.
In diesem Amtsgebäude, erzählte Ingeborg Archimboldi, gab es unendliche Reihen von Sekretärinnen, die pausenlos an Schreibmaschinen schrieben, in einem schmalen, aber sehr langen Saal, in dem zahllose Laufburschen in grünen Hemden und kurzen,
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