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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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braunen Hosen herumflitzten, unermüdlich Papiere hin und her trugen oder die ins Reine geschriebenen Dokumente von silberfarbenen Metalltabletts einsammelten, die jede Sekretärin neben sich hatte. Und obwohl jede Sekretärin ein anderes Dokument abschrieb, so Ingeborg zu Archimboldi, erzeugten die Schreibmaschinen einen weitgehend eintönigen Klang, als schrieben alle das Gleiche oder als tippten alle gleich schnell. Alle außer einer.
    Dann schilderte ihm Ingeborg, es habe vier Reihen von Schreibtischen mit je einer Sekretärin gegeben. Und am oberen Ende der vier Reihen stand, präsidierte förmlich, ein einzelner Schreibtisch, gleichsam der Schreibtisch der Direktorin, obwohl die Sekretärin, die an diesem Tisch saß, gar nichts dirigierte, sie war ganz einfach die Älteste, diejenige, die am längsten in diesem Amt oder Ministerium arbeitete, in das ihr Vater sie mitgenommen hatte und in dem er wahrscheinlich Dienst tat.
    Und als sie und ihr Vater den Saal betraten, sie angelockt durch den Lärm, ihr Vater von dem Wunsch, ihre Neugier zu befriedigen, oder auch, sie zu überraschen, war der führende Schreibtisch, der beherrschende Schreibtisch (obwohl von ihm keine Herrschaft ausging, damit das klar ist, sagte Ingeborg), unbesetzt, und im Saal befanden sich nur die Sekretärinnen, die in zügigem Tempo tippten, und die Burschen in kurzen Hosen und Kniestrümpfen, die in den Gängen zwischen den Tischreihen auf und ab liefen, und ein großes Gemälde, das am anderen Ende des Saals, im Rücken der Sekretärinnen, von der hohen Decke hing und Hitler darstellte, der auf eine bukolische Landschaft blickte, ein Hitler, der an die Futuristen erinnerte, das Kinn, das Ohr, die Haarsträhne, der aber vor allem ein präraffaelitischer Hitler war, und die Lampen, die von der Decke hingen und, wie ihr Vater sagte, rund um die Uhr brannten, und die schmutzigen Scheiben der Dachluken, die sich von einem Ende des Saals zum anderen zogen und deren Licht nicht nur nicht ausreichte, um mit der Schreibmaschine zu schreiben, sondern auch für andere Dinge nicht ausreichte, im Grunde für gar nichts, außer dafür, da zu sein und anzuzeigen, dass es außerhalb des Saals einen Himmel und wahrscheinlich Menschen und Häuser gab, und genau in diesem Moment, als Ingeborg und ihr Vater, nachdem sie zwischen zwei Tischreihen bis an das obere Ende vorgegangen waren, schon kehrtgemacht hatten und auf den Haupteingang zusteuerten, kam Frau Dorothea herein, eine winzige Alte, ganz in Schwarz, mit flachen, durchbrochenen Schuhen, die sich schlecht mit der draußen herrschenden Kälte vertrugen, ein Großmütterchen mit weißen, zu einem Dutt geknoteten Haaren, ein Großmütterchen, das sich an seinen Schreibtisch setzte und den Kopf neigte, als gäbe es nichts außer ihr und den Schreibmaschinistinnen, die just in diesem Augenblick im Chor Guten Tag, Frau Dorothea sagten, alle zugleich, aber ohne Frau Dorothea anzuschauen und ohne für eine Sekunde das Tippen zu unterbrechen, was Ingeborg unglaublich vorkam, sie wusste nicht, ob unglaublich schön oder unglaublich scheußlich, sicher ist aber, dass sie, das Mädchen Ingeborg, nach dem Grußchoral verstummte, wie vom Donner gerührt, oder als befände sie sich in einer richtigen Kirche, wo die Liturgie und die Sakramente und der Pomp real waren und schmerzten und pochten wie das einem Opfer der Azteken herausgerissene Herz, so stark, dass sie, das Mädchen Ingeborg, verstummte und sogar eine Hand zum Herzen führte, als hätte man es ihr herausgerissen, und in dem Moment, genau in dem Moment entledigte sich Frau Dorothea ihrer Leinenhandschuhe, dehnte ihre durchscheinenden Hände und begann, den Blick auf ein neben ihr liegendes Dokument oder Manuskript geheftet, zu schreiben.
    In diesem Moment, erzählte Ingeborg Archimboldi, begriff ich, dass in allem Musik sein konnte. Das Tippen von Frau Dorothea war so rasant, so eigentümlich, und in ihrem Schreibmaschineschreiben drückte sich so viel von ihr aus, dass trotz des Lärms oder des Klangs oder der im Gleichtakt angeschlagenen Noten der siebzig Schreibmaschinistinnen die Maschine der ältesten Sekretärin sich über die Komposition ihrer Kolleginnen erhob, ohne sie zu übertrumpfen, sondern sich einschaltend, sie ordnend, mit ihnen spielend. Manchmal schien sie bis zu den Dachluken emporzusteigen, dann wieder schlängelte sie sich am Boden, umschmeichelte die Knöchel der Jungen in kurzen Hosen und der Besucher. Hin und wieder leistete sie

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