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strahlenden Augen und dem breitesten Lächeln zur Baroness von Zumpe, als wäre das Letzte, womit er in diesem Teil von Mainz gerechnet hätte, ein Wald und eine Kolonie Singvögel und ein einstöckiges Häuschen mit weiß getünchten Mauern in märchenhafter Größe, also winzig, ein Häuschen aus weißer Schokolade mit Holzfachwerk wie aus schwarzen Schokoladenriegeln, umgeben von einem Gärtchen mit Blumen wie aus Papier geschnitten, einem mit mathematischer Pedanterie gepflegten Rasen und einem schmalen Kiesweg, der laut knirschte, wenn man ihn betrat, so sehr knirschte, dass sich einem die Nerven oder Nervenfasern sträubten, alles mit Lineal, Winkelmaß und Kompass angelegt, wie Bubis seiner Frau zuraunte, bevor er den Klopfer (in Form eines Schweinskopfs) gegen die massive Holztür schlug.
Der Literaturkritiker Lothar Junge persönlich bat sie herein. Selbstverständlich wurden die Gäste erwartet, und auf dem Tisch standen für Herrn Bubis und Baroness von Zumpe Speckküchlein und zwei Flaschen Schnaps bereit. Der Kritiker war mindestens eins neunzig groß und lief durchs Haus, als würde er fürchten, sich den Kopf zu stoßen. Er war nicht dick, aber auch nicht dünn und nach den Usancen der Heidelberger Professoren gekleidet, die nur in wirklich intimen Situationen ihren Schlips ablegten. Während sie den Vorspeisen zusprachen, plauderten sie über das gegenwärtige Bild der deutschen Literatur, ein Gebiet, auf dem Junge sich mit der Vorsicht eines Blindgänger- oder Minensuchers bewegte. Dann trafen ein junger Mainzer Autor und seine Frau sowie ein weiterer Literaturkritiker ein, der bei der gleichen Frankfurter Zeitung arbeitete, in der auch Junge seine Rezensionen veröffentlichte. Sie aßen Kaninchen im Schmortopf. Die Frau des Mainzer Autors machte während des gesamten Essens nur einmal den Mund auf, und das, um die Baroness zu fragen, wo sie das Kleid gekauft habe, das sie trug. In Paris, antwortete die Baroness, und die Frau des Schriftstellers verstummte. Ihr Gesicht jedoch verwandelte sich von da an in eine Abhandlung oder Denkschrift zu allen von der Stadt Mainz seit der Gründung bis zum heutigen Tag erlittenen Beleidigungen. Die sämtlichen Mienen oder Grimassen, die in Lichtgeschwindigkeit die Entfernung von einfacher Pikiertheit bis hin zum maskierten Hass auf ihren Ehemann durcheilten, in dem sie den Repräsentanten aller um den Tisch versammelten und ihres Erachtens verächtlichen Personen erblickte, entgingen niemandem außer Junges Kritikerkollegen Willi, dessen Spezialgebiet die Philosophie war und der daher über philosophische Bücher schrieb und hoffte, eines Tages selbst ein solches Werk zu veröffentlichen, drei Beschäftigungen, könnte man sagen, die ihn auf besondere Weise unempfänglich machten, wenn es darum ging, zu bemerken, was sich im Gesicht (oder in der Seele) eines Tischgenossen abspielte.
Nach dem Essen kehrte man für Kaffee oder Tee ins Wohnzimmer zurück, und Bubis, nicht gewillt, noch länger in diesem Puppenhäuschen zu verweilen, nutzte den Moment, Junges vollen Einverständnisses gewiss, den Kritiker in den Hintergarten zu entführen, der ebenso gepflegt war wie der Vorgarten, mit dem Unterschied, dass er weitläufiger war und einen vielleicht noch günstigeren Blick auf den Wald bot, der diesen außerhalb gelegenen Stadtteil umschlang. Sie sprachen in erster Linie über die Arbeiten des Kritikers, der darauf brannte, von Bubis verlegt zu werden. Letzterer sprach vage von der Möglichkeit, eine neue Reihe ins Leben zu rufen, die ihm seit Monaten durch den Kopf ging, hütete sich aber zu verraten, was in dieser neuen Reihe erscheinen sollte. Dann wandten sie sich noch einmal der neueren Literatur zu, wie sie Bubis und seine Kollegen in München, Köln, Frankfurt und Berlin verlegten, nicht zu vergessen auch die alteingesessenen Verlagshäuser in Zürich und Bern sowie die sich neu formierenden Verlage in Wien. Dann fragte Bubis so beiläufig wie möglich, was er zum Beispiel von Archimboldi halte. Lothar Junge, der genauso vorsichtig durch den Garten ging, wie er sich in seinem Haus bewegte, zuckte zunächst nur die Schultern.
»Haben Sie ihn gelesen?«, fragte Bubis.
Junge antwortete nicht. Mit gesenktem Kopf brütete er über einer Antwort, versunken in die Betrachtung oder Bewunderung des Rasens, der sich, je mehr sie sich dem Waldrand näherten, desto ungepflegter und weniger von Blättern, Zweigen und sogar, wie es schien, von Insekten befreit
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