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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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natürlich Ingeborg, die Archimboldi einige Stunden später gestand, dass auch sie irgendwann mit dem Gedanken gespielt habe, die Buchhandlung zu verlassen.
    Außerdem organisierte das Kölner Kulturamt für ihn in Zusammenarbeit mit der gerade neu entstandenen und etwas weltfremden Kulturverwaltung Niedersachsens eine Vortrags- und Lesereise, die in Oldenburg mit einigem Prunk und Pomp begann, die sich im Anschluss daran in immer kleineren, immer gottverlasseneren Ortschaften und Käffern fortsetzte, in die kein Schriftsteller hatte gehen wollen, eine Rundreise, die zuletzt in friesische Fischerdörfer führte, wo Archimboldi überraschenderweise die zahlreichsten Zuhörer fand, von denen sehr wenige vor der Zeit die Veranstaltung verließen.
    Archimboldis Schreiben, der Schaffensprozess oder die Alltäglichkeit, in der dieser Prozess friedlich vonstattenging, gewann Stabilität und etwas, das wir mangels besserer Bezeichnung Selbstvertrauen nennen wollen. Dieses »Selbstvertrauen« bedeutete sicher kein Ende des Zweifels, erst recht nicht, dass der Autor glaubte, sein Werk habe irgendeinen Wert, denn Archimboldi hatte die Vision (und noch das Wort Vision ist zu hochtrabend) einer Literatur in drei Abteilungen, die nur auf sehr unterschwellige Weise miteinander in Verbindung standen. Die erste umfasste die Bücher, die er wieder und wieder las, die er wunderbar und manchmal ungeheuerlich fand, etwa die Werke von Döblin, immer noch einer seiner Lieblingsautoren, oder sämtliche Werke von Kafka. Die zweite Abteilung umfasste die Bücher epigonaler und solcher Autoren, die er »die Horde« nannte und im Grunde als seine Feinde ansah. Die dritte Abteilung umfasste seine eigenen Bücher und Buchprojekte, die in seinen Augen ein Spiel waren und auch ein Geschäft, ein Spiel in dem Maße, wie er am Schreiben Vergnügen fand, ähnlich wie es einem Detektiv Vergnügen macht, den Mörder zu entlarven, und ein Geschäft in dem Maße, wie die Veröffentlichung seiner Werke ihm ein, wie immer auch bescheidenes, Zubrot zu seinem Lohn als Türsteher bescherte.
    Ein Job, der des Türstehers, den er selbstverständlich nicht aufgab, zum einen, weil er sich an ihn gewöhnt hatte, zum anderen, weil sich die Mechanik der Arbeit perfekt mit der des Schreibens verkoppelt hatte. Als er seinen dritten Roman, Die Ledermaske, beendet hatte, bot ihm der Alte, der ihm die Schreibmaschine lieh und dem Archimboldi ein Exemplar von Die grenzenlose Rose geschenkt hatte, die Maschine für einen vernünftigen Preis zum Kauf an. Der Preis war zwar aus Sicht des alten Schriftstellers vernünftig, vor allem wenn man berücksichtigte, dass sich fast niemand mehr die Maschine von ihm lieh, für Archimboldi aber stellte sie nicht bloß ein Objekt der Begierde, sondern noch immer so etwas wie Luxus dar. Nachdem er daher mehrere Tage überlegt und Berechnungen angestellt hatte, schrieb er an Bubis und bat ihn erstmalig um einen Vorschuss für ein Buch, das er noch nicht einmal begonnen hatte. Natürlich erklärte er ihm in seinem Brief, wofür er das Geld brauche, und versprach ihm hoch und heilig, sein nächstes Buch in nicht weniger als sechs Monaten abzuliefern.
    Bubis' Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Eines Morgens lieferten ihm Vertreter der Kölner Olivetti-Niederlassung eine nagelneue Schreibmaschine, und Archimboldi musste lediglich einige Papiere unterschreiben. Zwei Tage später traf ein Brief der Verlagssekretärin ein, in dem sie ihm mitteilte, sie habe auf Anordnung des Chefs den Kauf einer Schreibmaschine auf seinen Namen veranlasst. Die Maschine, schrieb die Sekretärin, sei ein Geschenk des Verlags. Tagelang war Archimboldi trunken vor Glück. Im Verlag glauben sie an mich, wiederholte er laut, während die Leute an ihm vorbeigingen, schweigend oder wie er, in Selbstgespräche vertieft, ein übliches Bild in jenem Winter in Köln.
    Von der Ledermaske wurden sechsundneunzig Exemplare verkauft, was nicht viel ist, dachte Bubis resigniert, als er die Zahlen durchsah, weshalb sich an der Unterstützung, die der Verlag Archimboldi leistete, aber nichts änderte. Im Gegenteil. Zu jener Zeit musste Bubis nach Frankfurt reisen und nutzte seinen Aufenthalt tagsüber für einen Abstecher nach Mainz, um den Literaturkritiker Lothar Junge zu besuchen, der in einem Häuschen am Rande der Stadt wohnte, am Wald unter einem Hügel, einem Häuschen, in dem man die Vögel singen hörte, was Bubis unglaublich vorkam, sieh nur, sagte er mit

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