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die plötzlich an den Wänden erschienen, Kreise, die wie lautlose Explosionen verpufften.
»Der Zufall ist kein Luxus, er ist die Kehrseite des Schicksals und noch etwas anderes«, sagte Johns.
»Was noch?«, fragte Morini.
»Etwas, das meinem Freund aus einem einfachen und verständlichen Grund entgangen ist. Mein Freund (vielleicht mache ich mir etwas vor, wenn ich ihn noch so nenne) glaubte an die Menschlichkeit, darum glaubte er an die Ordnung, an die Ordnung der Malerei und an die Ordnung der Worte, daran, dass aus ihr allein die Malerei entsteht. Er glaubte an die Erlösung. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass er an den Fortschritt glaubte. Der Zufall dagegen ist die totale Freiheit, der wir aufgrund unserer eigenen Natur zustreben. Der Zufall gehorcht keinen Gesetzen, und wenn doch, so kennen wir sie nicht. Der Zufall, wenn Sie mir das Gleichnis erlauben, ist wie der in jeder Sekunde auf unserem Planeten sich manifestierende Gott. Ein unbegreiflicher Gott, der seinen unbegreiflichen Geschöpfen unbegreifliche Fingerzeige gibt. In diesem Orkan, in dieser knöchernen Implosion vollzieht sich die Kommunion. Die Kommunion des Zufalls mit den Spuren des Gottes und die Kommunion seiner Spuren mit uns.«
Da, genau in diesem Moment, hörten oder erahnten sowohl Espinoza als auch Pelletier, wie Morini mit leiser Stimme und so weit vorgebeugt, dass sie schon fürchteten, er könne aus dem Rollstuhl fallen, die Frage aussprach, deretwegen er gekommen war.
»Warum haben Sie sich verstümmelt?«
Morinis Gesicht schien in den letzten Sonnenstrahlen zu glühen, die durch den Park der Irrenanstalt huschten. Johns hörte ihm unbeweglich zu. Wenn man ihn sah, hätte man meinen können, er wisse, dass der Mann im Rollstuhl zu ihm gekommen war, um wie so viele vor ihm nach einer Antwort zu suchen. Er lächelte und fragte zurück:
»Werden Sie dieses Gespräch veröffentlichen?«
»Auf keinen Fall«, sagte Morini.
»Welchen Sinn hat es dann, mich das zu fragen?«
»Ich würde es gern aus Ihrem Mund hören«, murmelte Morini.
Mit einer Geste, die Pelletier langsam und einstudiert vorkam, hob Johns die rechte Hand und hielt sie Morini dicht vor das erwartungsvolle Gesicht.
»Glauben Sie, wir sind uns ähnlich?«, sagte Johns.
»Nein, ich bin kein Künstler«, erwiderte Morini.
»Ich bin auch kein Künstler«, sagte Johns. »Glauben Sie, wir sind uns ähnlich?«
Morini bewegte den Kopf hin und her, und auch sein Rollstuhl bewegte sich. Einen Moment lang sah Johns ihn an, und ein leichtes Lächeln umspielte seine dünnen, blutleeren Lippen.
»Was meinen Sie, warum habe ich es getan?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht, ehrlich, ich weiß es nicht«, sagte Morini und sah ihm in die Augen.
Der Italiener und der Engländer waren jetzt von Halbdunkel umgeben. Die Krankenschwester wollte schon aufstehen und das Licht anschalten, aber Pelletier legte einen Finger an die Lippen und hielt sie zurück. Die Krankenschwester setzte sich wieder hin. Die Schuhe der Krankenschwester waren weiß. Die Schuhe von Espinoza und Pelletier waren schwarz. Die Schuhe von Morini waren braun. Die Schuhe von Johns waren weiß und dafür gemacht, lange Strecken zu laufen, auf den Straßen einer Stadt genauso wie querfeldein. Das war das Letzte, was Pelletier sah, die Farbe der Schuhe und ihre Form und ihre Ruhe, bevor die Nacht sie in das kalte Nichts der Alpen tauchte.
»Ich werde Ihnen sagen, warum ich es getan habe«, sagte Johns, und zum ersten Mal gab sein Körper die starre und kerzengerade soldatische Haltung auf, und er beugte sich zu Morini herab und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Dann richtete er sich auf, wandte sich zu Espinoza und gab ihm höflich die Hand, tat das Gleiche bei Pelletier und verließ anschließend, gefolgt von der Krankenschwester, den Pavillon.
Als sie das Licht anmachten, wollte Espinoza wissen, ob ihnen nicht aufgefallen sei, dass Johns weder zu Anfang noch nach Ende der Unterhaltung Morini die Hand gegeben habe. Pelletier erwiderte, es sei ihm allerdings aufgefallen. Morini sagte nichts. Nach einer Weile kam wieder die andere Krankenschwester und geleitete sie zum Ausgang. Während sie durch den Park gingen, sagte sie, dass am Eingang ein Taxi auf sie warte.
Das Taxi brachte sie nach Montreux, wo sie für die Nacht im Hotel Helvetia abstiegen. Alle drei waren müde und beschlossen, nicht mehr essen zu gehen. Zwei Stunden später rief jedoch Espinoza auf Pelletiers Zimmer an und sagte, er habe Hunger und
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