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Irrenanstalt verbarg.
Die Idee zu dieser Reise stammte weder von Pelletier noch von Espinoza, sondern von Morini, der auf unerfindliche Weise herausgefunden hatte, dass dort ein Maler lebte, der dem Italiener so verstörend erschien wie kaum ein anderer Künstler des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Oder nein. Vielleicht hatte der Italiener das nicht gesagt. Jedenfalls lautete der Name des Malers Edwin Johns, und er hatte sich seine rechte Hand abgeschnitten, die Hand, mit der er malte, hatte sie einbalsamiert und in eine Art multiples Selbstporträt eingefügt.
»Warum habt ihr mir die Geschichte nie erzählt?«, unterbrach sie Norton.
Espinoza zuckte mit den Schultern.
»Ich dachte, ich hätte sie dir erzählt«, sagte Pelletier.
Allerdings musste er sich kurz darauf eingestehen, dass er sie ihr tatsächlich nie erzählt hatte.
Zur allgemeinen Überraschung stieß Norton ein für sie ganz unübliches Kichern aus und bestellte noch eine Runde Margaritas. Für eine Weile, die der Besitzer, der weiter Kleider hin und her hängte, brauchte, ihnen die Cocktails zu servieren, saßen die drei schweigend da. Dann aber drängte Norton Espinoza, mit seiner Geschichte fortzufahren. Doch Espinoza wollte nicht.
»Erzähl du sie«, sagte er zu Pelletier, »du warst auch dabei.«
Pelletier begann nun mit seiner Erzählung an dem Punkt, wo die drei Archimboldianer zu dem schwarzen Eisengitter emporschauten, das vor ihnen aufragte, wie um sie zu begrüßen oder wie um das Verlassen (oder unerwünschte Betreten) der Irrenanstalt Auguste Demarre zu verhindern, oder Sekunden vorher, wo Pelletier und der bereits in seinem Rollstuhl sitzende Morini das eiserne Gittertor und den Eisenzaun betrachteten, der nach links und rechts auslief und von einer alten und sehr gepflegten Baumallee verdeckt wurde, während Espinoza, noch halb im Auto, den Taxifahrer bezahlte und mit ihm einen vernünftigen Zeitpunkt aushandelte, wann er aus dem Dorf hochfahren und sie abholen sollte. Dann richteten sich die Blicke der drei auf die Silhouette der Irrenanstalt, die sich am Ende der Zufahrt schon teilweise abzeichnete und dabei an eine Festung des fünfzehnten Jahrhunderts gemahnte, nicht ihrer baulichen Eigenart wegen, sondern durch das, was sie bei dem Betrachter auslöste.
Und was löste sie aus? Eigenartige Empfindungen. Die Gewissheit, zum Beispiel, dass Amerika nicht entdeckt worden war, der amerikanische Kontinent also nie existiert hatte, was für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum oder für ein normales Bevölkerungswachstum oder für die demokratische Entwicklung der helvetischen Republik sicherlich kein Hindernis darstellte. Kurz, sagte Pelletier, einer dieser seltsamen und nutzlosen Gedanken, die einem auf Reisen durch den Kopf gehen, besonders auf einer so offensichtlich nutzlosen Reise, wie diese wahrscheinlich eine war.
Anschließend überwanden sie sämtliche bürokratischen Hürden und Hindernisse einer Schweizer Irrenanstalt. Dann, nachdem sie die ganze Zeit über keinen der Geisteskranken zu Gesicht bekommen hatten, die in der Anstalt Heilung suchten, geleitete sie eine Krankenschwester mittleren Alters und mit undurchdringlicher Miene zu einem kleinen Pavillon in den rückwärtigen Gartenanlagen der Klinik, die riesig waren und einen phantastischen Ausblick boten, deren abschüssige Topographie jedoch nach Meinung von Pelletier, der Morinis Rollstuhl schob, keine besonders beruhigende Wirkung auf ein schwer oder sehr schwer verwirrtes Gemüt haben konnte.
Der Pavillon präsentierte sich wider Erwarten als ein einladender, von hohen Kiefern eingerahmter Ort, mit Rosensträuchern entlang der Zugangswege und im Inneren mit Sesseln, die den Komfort eines englischen Landhauses zum Vorbild hatten, mit einem Kamin, einem Eichentisch, einem halbleeren Bücherregal (in dem sich fast ausschließlich deutsche und französische, aber auch einige wenige englische Titel fanden), einem speziellen Tisch für einen Computer mit Internetanschluss, einem türkischen Diwan, der sich schlecht mit dem übrigen Mobiliar vertrug, einem Bad mit Klo, Waschbecken und sogar einer Dusche mit Schiebetür aus Plexiglas.
»Sie leben nicht schlecht«, sagte Espinoza.
Pelletier trat lieber an eins der Fenster und schaute hinaus in die Landschaft. Am Fuß der Berge glaubte er eine Stadt zu erkennen. Vielleicht Montreux, dachte er, oder das Dorf, in dem sie das Taxi genommen hatten. Der See sah jedenfalls genauso aus. Als Espinoza ans Fenster trat, war
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