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er der Meinung, dass die Häuser zum Dorf gehörten, auf keinen Fall zu Montreux. Morini saß still in seinem Rollstuhl und wandte keinen Blick von der Tür.
Als die Tür aufging, war Morini der Erste, der ihn sah. Edwin Johns hatte glattes Haar, das sich am Scheitel bereits lichtete, eine bleiche Haut und war nicht besonders groß, wenn auch immer noch sehr schlank. Er trug einen grauen Rollkragenpullover und ein leichtes Lederjackett. Das Erste, worauf sein Blick fiel, war der Rollstuhl von Morini, was ihn angenehm überraschte, als hätte er diese plötzliche Materialisierung offenbar nicht erwartet. Morini wiederum konnte nicht verhindern, dass er auf seinen rechten Arm starrte, den mit der fehlenden Hand, und wie groß war seine Überraschung, diesmal jedoch eine keineswegs angenehme Überraschung, als er feststellte, dass aus dem Jackettärmel, der leer hätte sein müssen, eine Hand ragte, offenbar aus Kunststoff, aber so gut gemacht, dass nur ein aufmerksamer und geschulter Beobachter imstande gewesen wäre, sie als eine künstliche Hand zu erkennen.
Hinter Johns kam eine Krankenschwester herein, eine andere als die, die sie hergeleitet hatte, etwas jünger und sehr viel blonder, die auf einem Stuhl am Fenster Platz nahm und ein dickes Taschenbuch hervorholte, in dem sie zu lesen begann, ohne im Geringsten auf Johns oder die Besucher zu achten. Morini stellte sich als Philologe von der Turiner Universität und Bewunderer des Werkes von Johns vor, dann seine beiden Freunde. Johns, der unterdessen bewegungslos dagestanden hatte, reichte Espinoza und Pelletier die Hand, die sie vorsichtig ergriffen, dann setzte er sich auf einen Stuhl am Tisch und sah Morini unverwandt an, als gäbe es in dem Pavillon nur sie beide.
Zu Anfang unternahm Johns einen schwachen, kaum merklichen Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen. Er fragte Morini, ob er eins seiner Gemälde erworben habe. Morini verneinte. Nein, sagte er, dann fügte er hinzu, Johns' Arbeiten seien zu teuer für seinen Geldbeutel. Espinoza bemerkte derweil, dass das Buch, von dem die Krankenschwester kein Auge wandte, eine Anthologie deutscher Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts war. Er machte Pelletier darauf aufmerksam, und dieser fragte die Krankenschwester, weniger aus Neugier als um das Eis zu brechen, ob sich unter den Autoren Benno von Archimboldi befände. In diesem Moment hörten alle den Gesang oder Ruf eines Raben. Die Krankenschwester bejahte. Johns fing an zu schielen, schloss dann die Augen und fuhr sich mit der orthopädischen Hand über das Gesicht.
»Das Buch gehört mir«, sagte er, »ich habe es ihr geliehen.« »Unglaublich«, sagte Morini, »so ein Zufall.«
»Aber natürlich habe ich es nicht gelesen, ich kann kein Deutsch.«
Espinoza fragte ihn, warum er es dann gekauft habe.
»Wegen des Titelbilds«, sagte Johns. »Eine Zeichnung von Hans Wette. Ein guter Maler. Außerdem«, sagte Johns, »geht es nicht darum, ob man an Zufälle glaubt oder nicht. Die ganze Welt ist ein Zufall. Ich hatte einen Freund, der zu mir sagte, ich hätte unrecht, wenn ich so dächte. Mein Freund sagte, für jemanden, der im Zug fährt, ist die Welt kein Zufall, auch wenn der Zug Gebiete durchquert, die der Reisende nicht kennt, Gebiete, die der Reisende sein Lebtag nicht wiedersehen wird. Auch für denjenigen, der morgens um sechs todmüde aufsteht, um zur Arbeit zu gehen, ist die Welt kein Zufall. Für den, der keinen anderen Weg sieht, als aufzustehen und dem bereits angesammelten Schmerz weiteren Schmerz hinzuzufügen. Schmerz sammelt sich an, sagte mein Freund, das ist eine Tatsache, und je größer der Schmerz, desto kleiner der Zufall.«
»Dann wäre der Zufall gleichsam ein Luxus?«, fragte Morini.
Espinoza, der Johns' Monolog gelauscht hatte, sah in diesem Augenblick Pelletier neben der Krankenschwester stehen, den Ellbogen auf das Fensterbrett gestützt, während die andere Hand ihr mit höflicher Geste behilflich war, die Seite mit Archimboldis Erzählung zu finden. Die blonde Krankenschwester, auf dem Stuhl sitzend mit dem Buch auf dem Schoß, und Pelletier neben ihr, in einer Haltung, der es nicht an Selbstsicherheit gebrach. Und der Fensterrahmen und die Rosen draußen und dahinter der Rasen und die Bäume und der Nachmittag, der zwischen Felsen und Hohlwegen und einsamen Bergspitzen vorrückte. Die Schatten, die sich unmerklich ins Innere des Pavillons verschoben und Winkel bildeten, wo vorher keine gewesen waren, unstete Zeichnungen,
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