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2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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barg.
    »Gestern hätte er ein Seminar gehabt und ist nicht erschienen«, sagte der Student nach kurzem Überlegen.
    Espinoza dankte und legte auf. Am frühen Nachmittag rief er noch einmal bei Morini und dann bei Pelletier an. Bei keinem der beiden nahm jemand ab, und er musste sich damit begnügen, auf den Anrufbeantworter zu sprechen. Dann begann er nachzudenken. Aber seine Gedanken gelangten nicht über das gerade Geschehene hinaus, über jene Vergangenheit, die fast noch Gegenwart zu sein scheint. Er erinnerte sich an Morinis Anrufbeantworterstimme, an die Stimme also, die Morini selbst aufgesprochen hatte und die knapp, aber höflich mitteilte, dies sei der Apparat von Piero Morini, man möge eine Nachricht hinterlassen, erinnerte sich an die Anrufbeantworterstimme von Pelletier, die statt zu sagen, dies sei der Anschluss von Pelletier, nur seine Nummer wiederholte, um Missverständnisse zu vermeiden, und dann den Anrufer aufforderte, seinen Namen und seine Telefonnummer zu hinterlassen, mit dem vagen Versprechen, man werde später zurückrufen.
    Am selben Abend rief Pelletier bei Espinoza an, und nachdem sie sich gegenseitig die Vorahnungen ausgeredet hatten, die auf ihnen lasteten, vereinbarten sie gemeinsam, ein paar Tage verstreichen zu lassen, nicht in billige Hysterie zu verfallen und stets daran zu denken, dass Morini ein freier Mann sei und tun und lassen könne, was er wolle, was immer das gewesen sein mochte, und sie in diesem Punkt nichts tun konnten (und durften), dies zu verhindern. Zum ersten Mal, seit ihrer Rückkehr aus der Schweiz, verbrachten sie eine ruhige Nacht.
    Am nächsten Morgen gingen beide ausgeruhten Leibes und heiteren Sinnes ihren jeweiligen Verpflichtungen nach, wenngleich Espinoza, kurz bevor er sich mit einigen Kollegen zum Essen setzte, nicht anders konnte, als noch einmal im Germanistischen Institut der Turiner Universität anzurufen - mit dem bereits bekannten fruchtlosen Ergebnis. Später rief ihn Pelletier aus Paris an, um zu überlegen, ob es ratsam wäre, Norton ins Vertrauen zu ziehen.
    Sie erwogen das Für und Wider und entschieden sich, einen schützenden Schleier des Schweigens über Morinis Privatsphäre zu breiten, zumindest bis sie Genaueres wüssten. Zwei Tage später rief Pelletier fast reflexartig bei Morini zu Hause an, und diesmal nahm jemand den Hörer ab. Pelletier vermochte erst nur seine Überraschung in Worte zu fassen, am anderen Ende der Leitung die Stimme des Freundes zu hören.
    »Das ist nicht möglich«, rief Pelletier, »wie ist das möglich? Das ist unmöglich! «
    Morinis Stimme klang wie immer. Dann folgten Glückwünsche, die Erleichterung, das Erwachen aus einem nicht bloß schlechten, sondern obendrein unverständlichen Traum. Mitten in der Unterhaltung sagte Pelletier, er müsse sofort Espinoza Bescheid geben.
    »Du bleibst, wo du bist?«, fragte er, bevor er auflegte.
    »Wohin sollte ich deiner Meinung nach gehen?«, sagte Morini.
    Aber Pelletier rief nicht bei Espinoza an, sondern goss sich einen Whisky ein und ging in die Küche und dann ins Bad und dann in sein Arbeitszimmer und ließ in der ganzen Wohnung die Lichter brennen. Erst danach rief er Espinoza an und erzählte ihm, Morini sei gesund und munter, er habe gerade mit ihm telefoniert, könne aber jetzt nicht länger sprechen. Eine halbe Stunde später rief Espinoza aus Madrid zurück. Tatsächlich, Morini war wohlauf. Er mochte nicht sagen, wo er all die Tage gesteckt hatte. Er brauche Erholung, hatte er gesagt. Und einen klaren Kopf. Espinoza zufolge, der ihn nicht mit Fragen bedrängen wollte, machte Morini den Eindruck, als würde er etwas verbergen. Aber was? Espinoza hatte nicht die geringste Idee.
    »Eigentlich wissen wir sehr wenig über ihn«, sagte Pelletier, der allmählich etwas genervt war von Morini, von Espinoza, vom Telefon. »Hast du ihn nach seinem Gesundheitszustand gefragt?«
    Espinoza bejahte, Morini habe ihm versichert, es gehe ihm ausgezeichnet.
    »Wir können nichts mehr tun«, schloss Pelletier mit einer Traurigkeit in der Stimme, die Espinoza nicht entging.
    Wenig später legten sie auf, und Espinoza griff nach einem Buch und versuchte zu lesen, was ihm nicht gelang.
    Daraufhin verriet Norton ihnen, während der Angestellte oder Besitzer der Galerie weiter Kleider hin und her hängte, dass Morini in den Tagen seines Verschwindens in London gewesen sei.
    »Die ersten beiden Tage verbrachte er allein, ohne mich ein einziges Mal anzurufen.«
    Als sie sich

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