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wolle schauen, ob irgendwo noch etwas offen sei. Pelletier sagte, das habe er erwartet und er würde mitkommen. Als sie sich in der Lobby trafen, fragte Pelletier, ob Espinoza bei Morini angerufen habe.
»Ja«, sagte Espinoza, »aber es hat niemand abgenommen.«
Sie kamen überein, dass der Italiener schon schlafen gegangen sein musste. Sie trafen erst spätnachts und ein wenig beschwipst wieder im Hotel ein. Am nächsten Morgen suchten sie nach Morini und fanden sein Zimmer leer. Der Empfangschef des Hotels teilte ihnen mit, dass Herr Piero Morini seine Rechnung beglichen und das Haus um Mitternacht des Vortages (während Pelletier und Espinoza in einem italienischen Restaurant beim Essen saßen) verlassen habe, wie man am Computer ersehen könne. Um diese Zeit sei er zur Rezeption gekommen und habe gebeten, ihm ein Taxi zu rufen.
»Er ist um zwölf Uhr nachts abgereist? Wohin?«
Das wusste der Empfangschef natürlich nicht.
Nachdem sie sichergestellt hatten, dass Morini sich in keinem Krankenhaus in Montreux und Umgebung befand, fuhren Pelletier und Espinoza am Vormittag mit dem Zug nach Genf. Vom Genfer Flughafen aus riefen sie bei Morini zu Hause in Turin an. Es meldete sich jedoch nur der automatische Anrufbeantworter, den beide überschwänglich verfluchten. Dann nahm jeder ein Flugzeug in seine Heimatstadt.
Kaum in Madrid angekommen, rief Espinoza bei Pelletier an. Dieser war bereits seit einer Stunde zu Hause und sagte, dass er keine Neuigkeiten Morini betreffend habe. Den ganzen Tag über hinterließen sowohl Espinoza als auch Pelletier kurze und von Mal zu Mal resigniertere Nachrichten auf dem Anrufbeantworter des Italieners. Am zweiten Tag wurden sie ernstlich nervös und spielten sogar mit dem Gedanken, sofort nach Turin zu fliegen und sich im Falle, dass sie Morini nicht fanden, an die Polizei zu wenden. Aber sie wollten nichts überstürzen und sich nicht blamieren und verhielten sich ruhig.
Der dritte Tag verlief wie der zweite: Sie riefen bei Morini an, telefonierten untereinander, erwogen verschiedene Maßnahmen, erwogen Morinis mentale Verfassung, sein erwiesenes Maß an Reife und gesundem Menschenverstand, und taten nichts. Am vierten Tag rief Pelletier direkt bei der Turiner Universität an. Er sprach mit einem jungen Österreicher, der zeitweise am Germanistischen Institut arbeitete. Der Österreicher hatte keine Ahnung, wo Morini steckte. Pelletier bat, ihn mit der Sekretärin des Instituts zu verbinden. Der Österreicher erklärte ihm, die Sekretärin sei frühstücken gegangen und noch nicht wieder zurück. Pelletier rief sofort bei Espinoza an und erzählte ihm in aller Ausführlichkeit von seinem Anruf. Espinoza sagte, er solle ihn sein Glück versuchen lassen.
Diesmal war nicht der Österreicher am Apparat, sondern ein Germanistikstudent von dort. Das Deutsch des Studenten war allerdings nicht das beste, weshalb Espinoza mit ihm italienisch sprach. Er fragte, ob die Sekretärin des Instituts zurück sei. Der Student erwiderte, er sei allein, offenbar säßen alle beim Frühstück, jedenfalls sei niemand im Institut. Espinoza erkundigte sich, wann in der Turiner Universität gefrühstückt werde und wie lange ein Frühstück gemeinhin dauern könne. Der Student verstand Espinozas fehlerhaftes Italienisch nicht, und dieser musste seine Frage zweimal wiederholen, zuletzt in etwas beleidigendem Ton.
Der Student sagte, er selbst würde zum Beispiel fast nie frühstücken, aber das heiße nichts, Geschmäcker seien eben verschieden. »Haben Sie das verstanden oder nicht?«
»Verstanden«, sagte Espinoza zähneknirschend, »aber ich muss unbedingt mit einem verantwortlichen Vertreter des Instituts sprechen.«
»Sprechen Sie mit mir«, sagte der Student.
Espinoza fragte daraufhin, ob Doktor Morini zu einer seiner Veranstaltungen nicht erschienen sei.
»Moment, lassen Sie mich nachdenken«, sagte der Student.
Und dann hörte Espinoza, wie jemand, derselbe Student, murmelte:
Morini ... Morini ... Morini, mit einer Stimme, die nicht wie seine eigene klang, sondern wie die eines Magiers oder tatsächlich wie die einer Magierin, einer Hellseherin aus der Zeit des Römischen Imperiums, eine Stimme, die sich anhörte wie das Tröpfeln einer Basaltquelle, die aber rasch anschwoll und mit ohrenbetäubendem Lärm überfloss, mit einem Lärm von Tausenden von Stimmen, dem Tosen eines großen, über die Ufer getretenen Flusses, der verschlüsselt das Schicksal aller Stimmen in sich
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