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Freund und nicht um eine Freundin handelt«, sagte Pelletier.
»Sofern es sich nicht weder um einen Freund handelt noch um eine Freundin und wir hilflos im Dunkeln tappen«, sagte Espinoza.
»Aber was sollte Archimboldi sonst hier gewollt haben?«, sagte Norton.
»Es muss ein Freund sein, ein ganz enger Freund, so eng, dass er Archimboldi zu dieser Reise veranlassen konnte«, sagte Pelletier. »Und wenn wir uns irren? Und wenn Almendro uns angelogen hat oder sich vertan hat oder selbst belogen worden ist?« sagte Norton.
»Welcher Almendro? Héctor Enrique Almendro?« sagte Amalfitano.
»Genau der, kennst du ihn?«, sagte Espinoza.
»Nicht persönlich, aber einer Fährte von Almendro würde ich nicht allzu sehr trauen«, sagte Amalfitano.
»Warum nicht?«, fragte Norton.
»Weil er der typische mexikanische Intellektuelle ist, der sich in erster Linie um sein Überleben sorgt«, sagte Amalfitano.
»Alle lateinamerikanischen Intellektuellen sorgen sich in erster Linie um ihr Überleben, oder?«, sagte Pelletier.
»Das würde ich so nicht sagen, es gibt einige, denen zum Beispiel mehr daran gelegen ist, zu schreiben«, sagte Amalfitano.
»Das musst du uns erklären«, sagte Espinoza.
»Ich weiß nicht recht, wie ich das erklären soll«, sagte Amalfitano. »Das Verhältnis der mexikanischen Intellektuellen zur Macht hat eine lange Geschichte. Ich behaupte nicht, dass alle gleich sind. Es gibt rühmliche Ausnahmen. Ich behaupte auch nicht, dass jene, die sich ihr ergeben, es aus Arglist tun. Nicht einmal, dass diese Hingabe eine Hingabe mit Haut und Haaren ist. Nennen wir es einfach eine Anstellung. Aber eine Anstellung beim Staat. In Europa arbeiten die Intellektuellen in Verlagen oder in den Medien oder leben von ihren Frauen oder haben reiche Eltern, die ihnen ein monatliches Fixum zahlen, oder sind Arbeiter und sind Verbrecher und leben von ihrer ehrlichen Hände Arbeit. In Mexiko, und vielleicht gilt das für ganz Lateinamerika mit Ausnahme von Argentinien, arbeiten die Intellektuellen für den Staat. Das war so, als der PRI an der Macht war, und ist unter der PAN-Regierung noch genauso. Der einzelne Intellektuelle kann ein glühender Gefolgsmann oder ein Kritiker der Staatsmacht sein. Dem Staat ist das egal. Der Staat ernährt und beobachtet ihn schweigend. Mit seinem riesigen Heer von im Grunde überflüssigen Schriftstellern tut der Staat etwas. Was? Er bannt Dämonen, er verändert die mexikanische Wetterlage oder versucht zumindest, sie zu beeinflussen. Er schaufelt Schichten von Kalk in eine Grube, von der niemand weiß, ob sie überhaupt existiert. Das ist selbstverständlich nicht immer so. Ein Intellektueller kann an der Universität arbeiten oder, noch besser, an eine nordamerikanische Universität gehen, deren philologische Institute genauso schlecht sind wie die der mexikanischen Universitäten, doch schützt ihn das nicht davor, zu später Stunde einen Anruf zu bekommen von jemandem, der im Namen des Staates spricht und ihm eine Arbeit anbietet, eine besser bezahlte Stelle, etwas, das der Intellektuelle verdient zu haben glaubt, und Intellektuelle glauben immer, dass sie etwas Besseres verdient haben. Dieser Automatismus verdirbt die mexikanischen Schriftsteller in gewisser Weise. Macht sie verrückt. Einige fangen zum Beispiel an, japanische Lyrik zu übersetzen, ohne Japanisch zu beherrschen, andere greifen gleich zur Flasche. Almendro, ohne ins Detail zu gehen, macht, glaube ich, beides. Die Literatur in Mexiko ist wie ein Hort, ein Kindergarten, eine Vorschule, ich weiß nicht, ob ihr das verstehen könnt. Das Klima ist gut, die Sonne scheint, man kann aus dem Haus gehen, sich in einen Park setzen, ein Buch von Valéry aufschlagen, dem in mexikanischen Schriftstellerkreisen vermutlich meistgelesenen Schriftsteller, und dann bei Freunden vorbei schauen und plaudern. Dein Schatten jedoch folgt dir nicht mehr. Irgendwann hat er dich stillschweigend verlassen. Du tust, als würdest du es nicht bemerken, aber natürlich hast du es gemerkt, dein verdammter Schatten begleitet dich nicht mehr, aber gut, dafür lassen sich viele Erklärungen geben, der Stand der Sonne, der unterschiedliche Verblödungsgrad, den die Sonne in Köpfen ohne Kopfbedeckung hervorruft, die einverleibte Menge Alkohol, ein Schmerz wie unterirdische Panzerbewegungen, Angst vor den banalsten Dingen, eine sich andeutende Krankheit, verletzte Eitelkeit, der Wunsch, wenigstens einmal im Leben pünktlich zu sein. Dein Schatten
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