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nie wieder gesehen habe. Norton erkundigte sich dann nur noch nach Archimboldis äußerer Erscheinung. Groß, über eins neunzig, weißes, volles Haar, nur der Nacken kahl, schlank und sicher kräftig.
»Ein Methusalem«, sagte Norton.
»Nein, würde ich nicht sagen«, sagte El Cerdo. »Als er seinen Koffer öffnete, sah ich eine Menge Medizin. Er hatte sehr fleckige Haut. Manchmal wirkte er furchtbar erschöpft erholte sich allerdings schnell wieder oder tat zumindest so.«
»Wie sind seine Augen?«, fragte Norton.
»Blau«, sagte El Cerdo.
»Dass er blaue Augen hat, weiß ich, ich habe alle seine Bücher gelesen, mehrfach, sie können nur blau sein, ich meinte, wie waren sie, welchen Eindruck hatten Sie von seinen Augen?«
Am anderen Ende der Leitung entstand ein längeres Schweigen, als hätte El Cerdo mit dieser Frage überhaupt nicht gerechnet oder als hätte er sich schon viele Male selbst diese Frage gestellt, ohne eine Antwort zu finden.
»Eine schwer zu beantwortende Frage«, sagte El Cerdo.
»Sie sind der Einzige, der sie beantworten kann, schon lange hat ihn niemand mehr gesehen, Sie sind, wenn ich das sagen darf, in einer privilegierten Position«, sagte Norton.
»Híjole«, sagte El Cerdo.
»Wie bitte?«, sagte Norton.
»Nichts, nichts, ich denke nach«, sagte El Cerdo. Und nach einer Weile:
»Er hat Augen wie ein Blinder, ich sage nicht, dass er blind ist, aber seine Augen sehen genauso aus, vielleicht täusche ich mich auch.«
Am Abend fuhren sie zu einem Fest, das Rektor Negrete ihnen zu Ehren gab, obwohl sie erst später erfuhren, dass es ein Fest zu ihren Ehren war. Norton schlenderte durch die Gärten des Hauses und bewunderte die Pflanzen, die die Frau des Rektors eine nach der anderen beim Namen nannte, vergaß die Namen aber anschließend alle wieder. Pelletier unterhielt sich lange mit dem Dekan Guerra und einem anderen Professor der Universität, der in Paris mit einer Arbeit über einen Mexikaner promoviert hatte, der auf Französisch schrieb (ein Mexikaner, der auf Französisch schrieb?), doch doch, ein ganz eigenartiger, interessanter und guter Schriftsteller, dessen Namen der Professor mehrfach erwähnte (ein gewisser Fernández oder García?), ein Mann mit ziemlich turbulenter Vita, er war nämlich Kollaborateur, doch doch, ein Freund von Céline und Drieu la Rochelle und Schüler von Maurras, der von Résistancekämpfern erschossen wurde, nicht Maurras, sondern der Mexikaner, und sich, doch doch, bis zum Schluss wie ein Mann verhalten habe, nicht wie viele seiner französischen Kollegen, die den Schwanz einkniffen und nach Deutschland flohen, nein, dieser Fernández oder García (oder López oder Pérez?) verließ nicht das Haus, sondern wartete wie ein Mexikaner, bis man ihn holen kam, und kriegte auch keine weichen Knie, als man ihn hinunter auf die Straße brachte (gewaltsam?), an eine Wand stellte und erschoss.
Espinoza saß die ganze Zeit neben Rektor Negrete und mehreren Persönlichkeiten, die alle im gleichen Alter waren wie der Hausherr und lediglich Spanisch und ein wenig, ein ganz klein wenig Englisch sprachen, und musste eine Unterhaltung über sich ergehen lassen, die als Loblied auf die jüngsten Anzeichen für den sagenhaften Aufschwung von Santa Teresa angelegt war.
Keinem der drei Kritiker entging der Begleiter, den Amalfitano den ganzen Abend um sich hatte. Ein athletischer, gutaussehender junger Mann, sehr hellhäutig, der wie eine Klette an dem chilenischen Professor hing und von Zeit zu Zeit theatralisch gestikulierte und Gesichter schnitt, als würde er gleich den Verstand verlieren, der sich dann wieder geduldig anhörte, was Amalfitano ihm sagte, wobei er ständig den Kopf schüttelte, ein kleines, fast krampfhaftes Kopfschütteln, als befolgte er zähneknirschend die allgemeingültigen Regeln der Gesprächsführung oder als träfen Amalfitanos Worte (ermahnende Worte, seiner Miene nach zu urteilen) nie den Punkt.
Sie verließen die Abendgesellschaft um mehrere Vorschläge und einen Verdacht reicher. Die Vorschläge: Durchführung einer Vorlesung über spanische Gegenwartsliteratur (Espinoza), englische Gegenwartsliteratur (Norton) und französische Gegenwartsliteratur (Pelletier) und eines Oberseminars zum Werk von Benno von Archimboldi und zur deutschen Nachkriegsliteratur (Espinoza, Pelletier, Norton), Mitwirkung an einem Kolloquium über die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen Europa und Mexiko (Espinoza, Pelletier und Norton,
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