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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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dazu der Dekan Guerra und zwei Wirtschaftsprofessoren der Universität), Teilnahme an einem Ausflug zu den Ausläufern der Sierra Madre und anschließend an einem landestypischen Lamm-Barbecue auf einem Landgut in der Umgebung von Santa Teresa, zu dem zahlreiche Gäste erwartet wurden, unter anderem viele Professoren, und das alles, wie Guerra behauptete, in einer atemberaubend schönen Landschaft, obwohl Rektor Negrete einwandte, die Landschaft sei eher wild, zuweilen sogar schockierend.
    Der Verdacht: Es bestand die Möglichkeit, dass Amalfitano homosexuell war und der ungestüme junge Mann sein Liebhaber, ein fürchterlicher Verdacht, denn noch am selben Abend erfuhren sie, dass der besagte Jüngling der einzige Sohn von Guerra war, seines Zeichens Dekan und Amalfitanos direkter Vorgesetzter sowie die rechte Hand des Rektors, und entweder sie irrten sich gewaltig, oder Guerra hatte keine Ahnung, auf was sein Sohn sich da eingelassen hatte.
    »Das kann blutig enden«, sagte Espinoza.
    Dann sprachen sie von anderen Dingen und gingen irgendwann erschöpft schlafen.
    Am nächsten Tag machten sie eine Autotour quer durch die Stadt, ließen sich vom Zufall leiten, zeigten keine Eile, als hofften sie im Stillen, einen hochgewachsenen, weißhaarigen Deutschen einen Gehweg entlanglaufen zu sehen. Nach Westen zu war die Stadt sehr arm, die wenigsten Straßen waren asphaltiert, ein Meer von eilig aus Müll errichteten Häusern. Im Zentrum gab es eine historische Altstadt mit zwei- bis dreigeschossigen Häusern und arkadengesäumten Plätzen, die zusehends verfielen, und gepflasterte Straßen, auf denen junge Büroangestellte in Hemdsärmeln und Indianerinnen mit dicken Bündeln auf dem Rücken vorbeihasteten, an den Straßenecken sahen sie Nutten und junge Zuhälter herumlungern, mexikanische Ansichten wie aus einem Schwarzweißfilm. Nach Osten zu lagen die Viertel der Mittel- und Oberschicht. Dort gab es Hauptstraßen mit gestutzten Bäumen, Kinderspielplätze und Einkaufszentren. Dort lag auch die Universität. Im Norden stießen sie auf verlassene Fabriken und Lagerhäuser und auf eine Straße mit lauter Kneipen, Souvenirläden und kleinen Hotels, in denen angeblich nie ein Auge zugemacht wurde, in den Außenbezirken folgten dann wieder ärmere, allerdings weniger buntscheckige Viertel, Brachflächen, auf denen hin und wieder eine Schule stand. Im Süden entdeckten sie Eisenbahnlinien und von Baracken umgebene Fußballplätze für Arme, sie sahen sogar, ohne auszusteigen, ein Spiel zwischen einer Mannschaft von Todkranken und einer von Verhungernden im Endstadium, dann zwei Autobahnen, die aus der Stadt hinausführten, eine Schlucht, die sich in eine Müllkippe verwandelt hatte, Viertel, die einbeinig, einarmig und einäugig über sich hinauswuchsen, und hin und wieder in der Ferne die Umrisse von Industriehalden, den Horizont der Maquiladoras.
    Die Stadt war, wie alle Städte, unerschöpflich. Wenn man immer weiterfuhr, in Richtung Osten etwa, endeten an einem bestimmten Punkt die Wohngebiete der Mittelschicht, und spiegelbildlich zu den westlichen Ausläufern begannen Elendsviertel, die hier mit einer hügeligeren Orographie verschmolzen: Anhöhen, Schluchten, verfallene Landgüter, ausgetrocknete Flussbetten, die beitrugen, eine größere Siedlungsdichte zu verhindern. Vom nördlichen Teil aus sahen sie einen Zaun, der die Vereinigten Staaten von Mexiko trennte, und jenseits des Zauns sahen sie (und diesmal stiegen sie aus) in die Wüste von Arizona. Im Westteil umfuhren sie einige Industrieanlagen, die ihrerseits von Barackensiedlungen umgeben waren.
    Sie waren sich sicher, dass die Stadt Sekunde um Sekunde wuchs. Am Stadtrand von Santa Teresa sahen sie Schwärme von scharfäugigen schwarzen Rabengeiern, die über öde Viehweiden staksten, Vögel, die man hier Schmutzgeier oder auch Truthahngeier nennt, kleine Aasgeier also. Wo Truthahngeier waren, hieß es, gab es keine anderen Vögel. Auf der Aussichtsterrasse eines Motels an der Schnellstraße von Santa Teresa nach Caborca tranken sie Tequila und Bier und aßen Tacos. Der Abendhimmel erinnerte an eine fleischfressende Pflanze.
    Bei ihrer Rückkehr erwartete sie Amalfitano in Begleitung von Guerras Sohn, der sie zum Essen in ein Restaurant mit nordmexikanischer Küche einlud. Das Lokal hatte seinen Reiz, aber das Essen schlug ihnen fürchterlich auf den Magen. Sie stellten fest oder glaubten feststellen zu können, dass das Verhältnis zwischen dem chilenischen

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