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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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einen Hund, und zum Schluss meiner Vorstellung lasse ich ein Kind verschwinden. «
    Nach Verlassen des Circo Internacional lud Amalfitano sie zu sich zum Essen ein.
    Espinoza trat hinaus in den Hinterhof und sah auf einer Wäscheleine ein Buch hängen. Er wollte nicht nachschauen, um welches Buch es sich handelte, aber zurück im Haus fragte er Amalfitano danach.
    »Es ist das Geometrische Vermächtnis von Rafael Dieste«, sagte Amalfitano.
    »Rafael Dieste, ein galicischer Dichter«, sagte Espinoza.
    »Ebender«, sagte Amalfitano, »aber es ist kein Gedichtband, sondern ein Buch über Geometrie, über das, was Dieste während seiner Zeit als Lehrer widerfuhr.«
    Espinoza übersetzte für Pelletier, was Amalfitano ihm gesagt hatte.
    »Und es hängt im Hof?«, fragte Pelletier mit einem Lächeln.
    »Ja«, sagte Espinoza, während Amalfitano im Kühlschrank nach etwas Essbarem suchte, »wie ein Hemd, das man zum Trocknen aufhängt.«
    »Mögen Sie Bohnen?«, fragte Amalfitano.
    »Das oder etwas anderes, wir haben uns schon an alles gewöhnt«, sagte Espinoza.
    Pelletier trat ans Fenster und betrachtete das Buch, dessen Seiten sich im sanften Nachmittagswind kaum merklich bewegten. Dann ging er hinaus und schaute es sich von nahem an.
    »Nimm es nicht ab«, hörte er hinter sich Espinoza sagen.
    »Dieses Buch wurde nicht zum Trocknen aufgehängt, das hängt hier schon ewig«, sagte Pelletier.
    »Das habe ich mir schon gedacht«, sagte Espinoza, »aber fass es lieber nicht an und lass uns wieder ins Haus gehen.«
    Am Fenster stehend, beobachtete sie Amalfitano und biss sich auf die Lippen, ein Ausdruck, der in diesem Moment nicht Verzweiflung oder Ohnmacht, sondern unfassbar tiefe Traurigkeit verriet.
    Als die beiden Kritiker Anstalten machten, ins Haus zurückzukehren, trat er rasch zurück und ging wieder in die Küche, wo er so tat, als sei er ganz auf das Zubereiten des Essens konzentriert.
    Zurück im Hotel teilte ihnen Norton mit, sie werde morgen abreisen, eine Nachricht, die sie ohne Überraschung zur Kenntnis nahmen, als hätten sie schon seit längerem darauf gewartet. Der Flug, den Norton bekommen hatte, ging von Tucson aus, und obwohl sie protestierte und eigentlich ein Taxi nehmen wollte, beschlossen sie, sie zum Flughafen zu begleiten. Sie unterhielten sich bis tief in die Nacht, erzählten Norton von ihrem Besuch im Zirkus und versicherten ihr, sie würden, wenn das so weiterging, in spätestens drei Tagen ebenfalls abreisen. Dann wollte Norton schlafen gehen, und Espinoza schlug vor, ihre letzte Nacht in Santa Teresa zusammen zu verbringen. Norton verstand ihn nicht und sagte, nur sie fahre ab, ihnen blieben noch mehr Nächte in der Stadt.
    »Ich meinte, alle drei zusammen«, sagte Espinoza.
    »Zusammen im Bett?«, sagte Norton.
    »Zusammen im Bett«, sagte Espinoza.
    »Ich halte das nicht für eine gute Idee«, sagte Norton, »ich schlafe lieber allein.«
    Sie begleiteten sie also zum Aufzug, kehrten dann in die Bar zurück und bestellten zwei Bloody Mary, und während sie warteten, sagte keiner ein Wort.
    »Da bin ich wohl mit beiden Beinen ins Fettnäpfchen gesprungen«, sagte Espinoza, als der Barkeeper ihnen ihre Getränke brachte.
    »Sieht fast so aus«, sagte Pelletier.
    »Ist dir aufgefallen«, sagte Espinoza, »dass wir während der ganzen Reise nur einmal mit ihr im Bett waren?«
    »Natürlich ist mir das aufgefallen«, sagte Pelletier.
    »Und wer ist daran schuld«, fragte Espinoza, »sie oder wir?«
    »Keine Ahnung«, sagte Pelletier, »ehrlich gesagt, hatte ich in diesen Tagen keine große Lust, mit ihr zu schlafen. Du etwa?«
    »Ich auch nicht«, sagte Espinoza.
    Wieder schwiegen sie eine Zeitlang.
    »Ich nehme an, ihr geht es irgendwie ähnlich«, sagte Pelletier.
    Sie brachen sehr früh von Santa Teresa auf. Vorher riefen sie Amalfitano an, um ihm mitzuteilen, dass sie in die Vereinigten Staaten fahren und voraussichtlich den ganzen Tag fort sein würden. Die amerikanischen Grenzbeamten wollten die Fahrzeugpapiere sehen und ließen sie passieren. Den Angaben des Empfangschefs ihres Hotels folgend, bogen sie auf eine unbefestigte Straße ein und durchquerten im Folgenden eine zerklüftete, waldige Landschaft, so als hätten sie sich aus Unachtsamkeit in einen Glasdom mit eigenem Ökosystem verirrt. Eine Zeitlang dachten sie, sie würden nicht mehr rechtzeitig zum Flughafen kommen, dachten, sie würden überhaupt nirgendwo mehr hinkommen. Die Schotterpiste endete jedoch in Sonoita, und von

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