275 - Licht und Schatten
bis ich dich hole!«
»Ich liebe dich«, tönte es dumpf hinter dem Vorhang.
Hermon lauschte, neigte den Kopf und wiederholte: »Ich liebe dich.«
Es war gar nicht so schwer, auch wenn der Sinn dieser Worte für ihn noch immer außerhalb dessen lag, was man mit Logik und scharfem Verstand erfassen konnte. Oder besser gesagt: Der Sinn dieser drei Worte lag tief darunter, nämlich dort, wo der Kern dessen begann, was ein fühlendes und denkendes Wesen ausmachte. Die Primärrassenvertreter nannten das »Herz«.
»Und jetzt Ruhe!«, zischte er und verließ das Dachgeschoss des linken Festungsflügels. Er machte sich nicht die Mühe, die schwere Tür zu verriegeln. Das würde nur den Verdacht der Schattengestalten erregen.
Er lief über einen schmalen Gang. Eines Tages würde er auch die exakte Bedeutung dessen ergründet haben, was Bahafaa und Ihresgleichen unter »Herz« und »Liebe« verstanden. Um diesen Tag noch zu erleben - oder genauer: damit Bahafaa und die Ihren diesen Tag noch erlebten - musste er jedoch zunächst ergründen, was es mit diesen rätselhaften Schattenwesen auf sich hatte.
Über eine Wendeltreppe huschte er ins Zwischengeschoss. Dort hörte er Stimmen. An der untersten Stufe blieb er stehen und spähte um die Ecke. Menschen hasteten durch eine Zimmerflucht. Einige stürmten in anliegende Räume, eine Gruppe von etwa zehn Kriegerinnen drängte sich hinter Aruula her in eine Waffenkammer, die hier untergebracht war, und wieder andere liefen zielstrebig auf den Treppenaufgang ins Obergeschoss zu.
Als die Ersten dort ankamen - zwei Halbwüchsige und ein Jäger - stellte Hermon sich ihnen in den Weg. »Nicht dort hinauf!« Er versperrte ihnen den Weg zu den Stufen der Wendeltreppe. »Da oben sitzt ihr in der Falle, wenn die Feinde kommen!«
Die Männer schluckten, die Frauen schlugen die Hände vor die Münder. »Weiter!« Der Jäger lief zum Verbindungsgang in den mittleren Flügel und winkte die Gruppe hinter sich her.
Hermon alias Grao'sil'aana wartete, bis der Letzte um die Ecke gebogen war, dann entfernte er sich von der Treppe. Bahafaa hätte ihn wohl getadelt, weil er die Menschen zusätzlich geängstigt hatte. Doch anders hätte er nicht erreicht, dass seine Gefährtin dort oben allein blieb.
Die Logik sagte ihm, dass die Schatten zunächst größere Menschenmengen aufspüren und angreifen würden. Also hatte er dafür gesorgt, dass es im Obergeschoss gar nicht erst zu größeren Menschenansammlungen kam.
Auf leisen Sohlen schlich er über die Zimmerflucht. An der Tür, hinter der die zehn Kriegerinnen samt Aruula verschwunden waren, blieb er stehen und lauschte.
Er hatte seine eigenen telepathischen Kräfte bei der Schlacht der Giganten am Uluru verloren [6] , doch es bedurfte keiner besonderen Fähigkeiten, um zu erkennen, dass sich im Raum hinter der Tür die fähigsten Lauscherinnen versammelt hatten. Sie sprachen über die Schattenartigen und wie man sie aufhalten könne. Vermutlich wollten sie in die Gedanken der geheimnisvollen Angreifer eindringen.
Genug gehört. Hermon schlich weiter, huschte die breite Treppe ins Erdgeschoss hinunter, verließ den Seitenflügel über einen Küchenausgang. Durch den Gemüsegarten pirschte er sich zur Reena-Koppel, an den Stallungen entlang bis zu den Obstbäumen und dann von Stamm zu Stamm zur Außenmauer.
Das Festungstor war von hier aus zwei Speerwürfe entfernt. An einer Stelle auf der Mauer und auf zwei Dächern der Nebengebäude entdeckte Hermon Späher, die Lusaana wohl zurückgelassen hatte, bevor sie die Inselbewohner ins Innere der Festung geführt hatte. Von den Schattenartigen war noch keine Spur zu entdecken.
Hermon schlich entlang der Festungsmauer bis zu einer Mauernische, die außerhalb des Blickfeldes der drei Späher lag. Dort verwandelte sich seine Menschengestalt in die eines Daa'muren.
Grao'sil'aana spähte zur etwa sechs Meter hohen Mauer hinauf. Mehr als vier Meter über ihm verlief der Wehrgang. Er ließ tentakelartige Auswüchse aus seinen Fingern wuchern, umklammerte mit ihnen vorspringende Steine, schob sie in Ritzen und zog seinen Echsenkörper auf diese Weise zum Wehrgang hinauf.
Oben angekommen, kauerte er unterhalb der Mauerkrone und spähte zwischen zwei Zinnen hindurch in Richtung des Festungstores. Da waren sie, die gespenstischen Gestalten! Sie bewegten sich ungefähr hundert Schritte von der Festung entfernt auf das Tor zu. Sie schienen alle Zeit der Welt zu haben, denn sie näherten sich nur langsam,
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