275 - Licht und Schatten
Berührung abwehrten.
Wer immer die Gestalten waren - eine mächtige, vollkommen fremde Wesenheit begleitete sie, steuerte sie vielleicht sogar.
Aruula schlug die Augen auf und sah in die Gesichter der anderen. Viele waren bleich, in manchen bebten die Kaumuskeln, in anderen zuckten die Augenlider, wieder andere blähten die Nasenflügel. Den ersten Kriegerinnen rann bereits der Schweiß von Stirn und Wangen.
Ein Kraftakt ohnegleichen war es, wozu diese zehn Telepathinnen der Dreizehn Inseln sich versammelt hatten, eine Konzentrationsleistung, die fast alle Lauscherinnen an ihre persönlichen Grenzen führte.
»Da…!« Eine schrie auf, als es endlich gelang, den schimmernden Schirm an einer Stelle zu durchbrechen.
»Ja«, seufzte eine andere, und Aruula flüsterte: »Weiter, bloß nicht locker lassen!«
Die winzige Öffnung in der geistigen Schutzkuppel der fremden Wesenheit erweiterte sich - und eine ungeheure Angst flutete den Lauscherinnen entgegen. Eine entsetzliche Sehnsucht nach Tod und Erlösung, und ein Schuldgefühl, das Aruula einen Brechreiz verursachte.
Und dann stürzten Bilder aus der unerwarteten Tür zu dem fremden Geist in die Gedanken der zehn Lauscherinnen hinein: Sie sahen ein Schiff wie aus schwarzem Rauch, sahen Menschen versteinern, sahen einen eisernen Vogel, den einzig Aruula als Mondshuttle identifizierte, sahen den Tod der drei Halbwüchsigen am Strand - und nahmen die geistigen Stimmen von acht Schattenartigen wahr, die der fremden Wesenheit untergeben waren. Von ihnen kamen die Angstgefühle und die Todessehnsucht.
Einer der Geister war um einiges klarer und verständlicher als alle anderen, schien sich zu einem Teil aus dem Einfluss des Wesens gelöst zu haben.
»Er betet!«, rief eine der Telepathinnen.
»Er hat Angst vor einem Dämon«, flüsterte eine andere.
Kurz sahen sie die Gestalt des Dämons durch die Augen des Schattens: eine große, aufrecht gehende Echse mit grünblauen Schuppen. Aruula erkannte Grao.
»Es sind zwei Dämonen, die er fürchtet«, keuchte ihre Nachbarin.
»Still!«, zischte Aruula. »Hören wir seinem Gebet zu!«
Die Bilder der Litanei zeichneten sich in deutlichen Umrissen ab: Sie sahen eine wunderschöne junge Frau, bleich, mit roten Lippen und einem goldenen Lichterkranz um ihr dunkles Haar.
Den Namen, mit dem die Bilder verwoben waren, konnte nur Aruula zuordnen, denn Maddrax hatte ihr von dieser Gottesmutter erzählt, die damals im Glauben vieler Menschen eine große Rolle gespielt hatte: … höre meinen Hilferuf in dieser Not, Heilige Jungfrau Maria! Rette mich aus dieser Gefahr! Vertreibe das Böse vor meinem Angesicht mit dem Schall deiner reinen und gebietenden Stimme…
»Er muss wahnsinnig sein«, flüsterte eine der Frauen.
»Was redet er da von einer ›Jungfrau Maria‹?«, fragte eine andere Lauscherin.
»Still!«, gebot Aruula. »Er ist nicht verrückt. Er ist ein Gottesmann aus fernen Zeiten lange vor Kristofluu. Maddrax hat mir erzählt, woran die Alten glaubten. Es soll einen Erlöser namens Jesus Christus gegeben haben, und seine Mutter hieß Maria.«
Einige der Kriegerinnen grinsten. »Er sprach von einer Jungfrau! Wie kann sie also eine Mutter sein?«, fragte eine.
Aruula winkte ab. »Es ist eine Legende. Wichtig ist, dass er daran glaubt! Wir sollten das ausnutzen und mit ihm in Verbindung treten.«
»Wir wissen zu wenig über diese ›Jungfrau Maria‹«, warf eine der Lauscherinnen ein.
»Dann werde ich die Wortführerin sein«, bot Aruula an. »Unterstützt mich mit eurer vereinigten Kraft.«
Die anderen waren einverstanden und Aruula übernahm die Führung der Telepathengruppe. Sie schloss die Augen und nahm erneut Kontakt zu dem verängstigten Mann auf. Der schien schon darauf zu warten, denn es gelang Aruula mühelos, in seinen Geist vorzudringen.
»Er heißt Bartolomé de Quintanilla«, flüsterte sie, während sie seine Gedanken betastete. »Ein Gottesmann, wie ich es sagte…«
Die anderen konzentrierten sich ebenfalls auf die Öffnung zum Geist des Fremden. Alle lauschten gespannt.
»Es ist über tausend Jahre her, dass er geboren wurde«, flüsterte Aruula. »Er war der Lehrer einer Königstochter und fuhr mit einem Mann namens Cristóbal Colón(uns bekannt als Christoph Kolumbus) über das Meer. Im Lande Las Indias haben Leute wie er den Ureinwohnern den wahren Glauben gebracht - wenn nötig, mit Gewalt…«
Ein Raunen ging durch die Kriegerinnen, empörtes Zischen wurde laut.
»Einst war er ein
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