275 - Licht und Schatten
geradezu aufreizend langsam sogar. Wollten sie bewusst die Aufmerksamkeit auf sich ziehen?
Grao'sil'aana dachte an die zehn Kriegerinnen, die sich in der Waffenkammer versammelt hatten und in diesem Augenblick vermutlich versuchten, die Gedankenströme der gespenstischen Wesen mental zu sondieren. Er bezweifelte, dass diese Strategie zum Erfolg führen würde. Andererseits - musste man nicht alles versuchen, um einen Ansatzpunkt für die Verteidigung zu finden?
Er richtete seinen Blick auf die Unheimlichen. Nur fünfzig Schritte trennten sie jetzt noch vom Festungstor. Was waren das für Kreaturen?
Grao'sil'aana konzentrierte ein Großteil seiner Energie in seine Augen und die Regionen seines Hirns, die seine optischen Reize verarbeiteten. Jede Einzelheit der schattenartigen Gestalten konnte er nun erkennen und studieren.
Das Erste, was ihm auffiel: Allzu viele Einzelheiten gab es gar nicht zu erkennen. Die sich da so langsam dem Tor näherten, wirkten seltsam verschwommen, jedenfalls ohne markante Falten, Kerben und Kanten; fast wie Schemen kamen sie ihm vor.
Mindestens eine von ihnen war eine Frau, vielleicht sogar zwei, und der Kleidung nach zu urteilen, stammten alle aus keinem Teil dieses Planeten, über den irgendein Daa'mure jemals Informationen sammeln konnte.
Kamen sie womöglich aus einer anderen Zeit ?
Grao'sil'aana verglich jede Beobachtung, die er aufnahm, mit den reichhaltigen Fakten seiner Erinnerung. Einige Kleidungsstücke ähnelten den Rüstungen, die gewisse Soldaten in Afra zu tragen pflegten. Auch die Säbel kamen ihm bekannt vor. Gehörten die Schatten also einer Armee an, waren vielleicht nur deren Vorhut?
Wenn ja, musste es einen Feldherrn geben; jemand, der sie lenkte und Befehle erteilte. Wo befand er sich? Auf dem Schiff, mit dem sie gekommen waren?
Je länger er sie beobachtete, desto mehr wuchs in Grao die Gewissheit, es mit sehr gefährlichen Gegnern zu tun zu haben. Selbst wenn sie nur wenige waren, so stellten sie doch eine tödliche Bedrohung dar. Davon hatte er sich ja schon am frühen Morgen am Strand überzeugen können.
Während seiner Observierung waren die Schattenartigen immer näher gekommen - und dann geschah es: Sie drangen durch das geschlossene Tor, als bestünde es nicht aus dicken Eichenbohlen, sondern aus Rauchschwaden!
Grao'sil'aana erschrak nicht, verlor nicht den Kopf. Er zog lediglich eine nüchterne Bilanz seiner Beobachtungen. Drei Schlüsse ergaben sich zwingend.
Erstens gab er den Primärrassenvertretern, die sich in die Festung geflüchtet hatten, keinerlei Überlebenschance. Zweitens schien es ihm ausgeschlossen, mit diesen gespenstischen Wesen aus eigener Kraft fertig zu werden. Und drittens lag es auf der Hand, dass gewöhnliche Waffen nichts gegen diese Angreifer ausrichten konnten. Nicht einmal Mefju'drex' Explosivwaffe hatte einen Erfolg erbracht, wie er vom Dachgeschoss aus beobachtet hatte.
Grao'sil'aana beschloss, Bahafaa aus dem Versteck zu holen und gemeinsam mit ihr ins Hinterland zu flüchten. Vielleicht würden sich diese Schattenwesen mit den Leben zufriedengeben, die sie hier in der Festung fanden, und sie nicht verfolgen.
Ihm wurde merkwürdig leicht zumute, nachdem er diese Entscheidung getroffen hatte. Doch nur einen Atemzug lang, denn plötzlich fiel ihm die Anzahl der Schatten auf - zu viert standen sie jetzt innerhalb der Festung und warteten auf zwei weitere, die etwas mehr Mühe als die anderen zu haben schienen, das Tor zu durchqueren.
Es waren nur noch sechs! Hatte er nach Sonnenaufgang am Strand nicht acht dieser unheimlichen Gestalten gezählt…?
Grao'sil'aana fuhr herum: Etwa fünfzig Schritte links der Reena-Koppel bewegte sich etwas an der Festungsmauer. Ein großer Schattenartiger ragte dort halb aus der Wand! Nur langsam wucherten seine Umrisse Stück für Stück weiter aus dem Gestein, und sein Gesicht war von Anstrengung gezeichnet. Steckte er denn fest?
Grao'sil'aana zögerte keinen Augenblick: Er sprang vom Wehrgang in die Büsche hinab und warf sich flach auf den Boden. Kaum lag er, meinte er hinter sich einen kalten Hauch zu spüren. Grao drehte sich auf den Rücken. Die Mauer ragte keinen halben Schritt vor ihm auf - und etwas wie ein grauer Dunst sickerte aus der Wand…
***
Bartolomé de Quintanilla stand vor der Festungsmauer und sehnte sich nach dem Tod.
Nicht durch diese Mauer, Heilige Jungfrau! Unter deinen Schutz und Schirm fliehe ich, o heilige Mutter Gottes…!
Fast hundertfünfzig Lebende
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