28 Tage lang (German Edition)
eingefallenen Wangen. Noch eine lebende Tote.
Ehe jemand von uns etwas erwidern konnte, wurden wir von allen Seiten angebrüllt: «Wir wollen euch nicht hier!», «Wegen euch werden wir alle sterben!», «Wenn die Deutschen euch hier finden, töten sie uns!»
Es war unfassbar. Wir kämpften für das Ghetto, und diese Menschen hatten so viel Angst um ihr Leben, dass sie uns dafür hassten.
Aus einer Ecke, in der sich mehrere Kinder geschart hatten, trat ein junger Mann hervor und rief bestimmt: «Die Kämpfer bleiben!»
Dieser Mann war Daniel.
60
Ich erkannte ihn sofort im fahlen Kerzenlicht, obwohl sein Kopf fast kahl geschoren war und er noch viel dünner war als zuvor.
«Warst du in Treblinka?», fragte ich erschrocken und hustete dabei. Halb wegen des Qualms, der immer noch in meinen Lungen brannte, aber auch weil ich mich an Ruths Husten erinnerte. Sie war dem Lager entkommen, weil ihr Geliebter dafür bezahlt hatte. Doch für Daniel hatte gewiss keiner Geld gegeben, und nach allem, was wir bisher gehört hatten, war auch niemand in der Lage, einem KZ wieder zu entfliehen. Unsere Späher, die sich vor ein paar Monaten Treblinka genähert hatten, berichteten davon, wie Gefangene in die Elektrozäune liefen, um ihrem eigenen qualvollen Leben ein Ende zu setzen.
«Ich hatte Läuse», antwortete Daniel.
Das erleichterte mich, und ich konnte endlich aufhören zu husten.
Amos sah zu mir, er kannte Daniel nicht, und ich hatte ihm genauso wenig von ihm erzählt wie Daniel von Amos. Er mischte sich aber nicht in das Gespräch ein und blickte wieder zu den hysterischen Zivilisten, die sich nach Daniels Machtwort in die Ecken kauerten und uns Kämpfer hasserfüllt ansahen, als ob wir es wären, die sie umbringen wollten.
«Du kämpfst», stellte Daniel mit Blick auf die Pistole fest, die ich in meiner Hand hielt.
«Ja», antwortete ich, unsicher, wie er das finden würde. Er selber war nicht bewaffnet, gehörte offenbar nicht zu den Aufständischen.
«Und du tötest.» Er schien von mir enttäuscht zu sein.
Was nahm er sich raus? Warum verurteilte er mich? Ich könnte ihn verurteilen, weil er uns nicht half.
Daniel merkte, dass ich wütend wurde, und sein Gesichtsausdruck wurde ganz sanft. «Es ist so schön, dass du lebst, Mira.»
Er hatte recht, es war absurd, zornig zu sein. Dies war ein Moment der Freude. «Du auch, du auch …», antwortete ich, und wir umarmten uns. Es fühlte sich ganz vertraut an.
Wir lösten unsere Umarmung erst, als Amos zu uns trat und sagte: «Ich weiß nicht, wie lange wir hier bleiben können, über kurz oder lang werden die Soldaten auch dieses Haus in Asche legen, und wir werden in diesem Bunker ersticken.»
«Es ist eure Schuld, wenn sie uns in die Öfen schicken!», schrie die Skelettfrau, während ihr kleiner Junge so apathisch dreinblickte, als wäre seine Seele schon längst zu Asche verbrannt.
Bevor Amos oder ich sie zurechtweisen konnten, ging Daniel zu ihr, nahm ihr den Jungen ab und versprach ganz ruhig: «Wir werden hier nicht sterben.»
Die Frau glaubte es ihm. Und dem Kind fielen in seinen Armen die Augen zu. Da begriff ich:
Daniel war in diesem Bunker ein kleiner Korczak.
61
Während meine Kameraden sich in einer Ecke des kleinen Bunkers berieten, saß ich in einer anderen mit Daniel. Sie hatten nichts dagegen. Selbst Amos nicht. Es war so ungewöhnlich, so unfassbar, noch jemanden aus seiner Vergangenheit zu treffen, jeder hätte sich über eine solche Begegnung gefreut.
«Was für ein Pessach-Fest», sagte Daniel, auf dessen Schoß der Junge schlief.
«Wie hast du überlebt?», wollte ich wissen.
«Meine Freundin hat mich niedergeschlagen.»
Ich sah in seinem Gesicht, dass er nicht mehr wütend auf mich war.
«Das war nett von deiner Freundin …», antwortete ich. Ich war mir immer noch sicher, damals das Richtige getan zu haben.
«Ja», lächelte er freundlich, fast liebevoll. «Das war es.»
Ein weiteres Mädchen lehnte sich an ihn, sie war vielleicht acht Jahre alt, trug ein zerlumptes Kleid und hatte die Faust geballt, hielt anscheinend irgendetwas krampfhaft in ihr fest. Irgendwie kam sie mir bekannt vor.
«Das ist Rebecca», stellte Daniel sie mir vor.
«Hallo, Rebecca», sagte ich.
Die Kleine sah mich misstrauisch an.
«Sie redet nicht», erklärte Daniel.
Jetzt erkannte ich sie, es war das kleine Mädchen, das mir im Waisenhaus die Zunge rausgestreckt hatte. Sie trug noch ihr rot gepunktetes Kleid von damals, nur war es
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