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28 Tage lang (German Edition)

28 Tage lang (German Edition)

Titel: 28 Tage lang (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Safier
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überzeugte Ascher, der – so wie Ruth anscheinend auch – unter «Liebe» etwas komplett anderes verstand als ich. Er strahlte Ruth an, nahm einen Schluck Kaffee und sagte: «Willkommen bei der Chompe-Bande.»
    «Danke», antwortete ich. Dabei blickte ich ihn nur kurz an und dann gleich zu Ruth, denn mein Dank galt ihr.
    «Heute Nacht fängst du an», erklärte Ascher, «vier Uhr dreißig. Zimna, Ecke Żelazna.»
    Heute Nacht schon?
    Das ging früher los, als ich erwartet hatte. Oder gewünscht. In wenigen Stunden würde ich also über die Mauer klettern müssen. Und hoffentlich nicht mein Leben dort lassen.

11
    Als hungerndes Mädchen hatte ich das Britannia-Hotel betreten, als hungerndes Mitglied einer Bande verließ ich es wieder. Der Türsteher sah mich misstrauisch an, hielt es aber für schlauer, mich nicht noch mal anzusprechen, und war sichtlich erleichtert, dass ich wegging, ohne irgendeinen Rubinstein-Irrsinn zu veranstalten.
    Die Sonne blendete, und es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen wieder an das Tageslicht gewöhnt hatten. Erst jetzt konnte ich halbwegs durchatmen – selbst die stinkende Ghetto-Luft erschien mir frisch im Vergleich zu der verrauchten Luft in der Bar – und mir fiel auf: Ich hatte von Ascher gar nicht erfahren, was genau ich schmuggeln würde und wen von seinen Leuten ich in der Nacht an der Mauer treffen sollte.
    Kurz spielte ich mit dem Gedanken, wieder zurückzugehen und ihn nach dem genauen Plan zu fragen. Aber Ascher war niemand, den man nerven sollte. Daher beschloss ich, mit meinem Sägemehlbrot nach Hause zu gehen. Allerdings nicht direkt.
    Immer wenn es mir zeitlich möglich war, machte ich einen Umweg über den Bücherflohmarkt. Ich liebte es einfach, in den Kisten oder Koffern, in denen die Menschen ihre Bücher feilboten, zu stöbern. Darunter waren auch Werke von Autoren, die unter den Nazis verboten waren: Thomas Mann, Sigmund Freud, Karl Marx, Erich Kästner … Das Allerbeste war jedoch, dass es dort auch englische Bücher gab. Mit deren Hilfe brachte ich mir selbst die Sprache bei, schließlich wollte ich ja für den nicht allzu wahrscheinlichen Fall, dass ich tatsächlich einmal die Lichter der Großstadt sehen würde, mit den Amerikanern reden können.
    Anfangs hatte ich nur Bilderbücher mit wenig Text gekauft:
Snowhite
,
Red Riding Hood
,
Winnie the Pooh
, aber jetzt traute ich mich sogar, ganze Kriminalromane zu lesen. Am liebsten mochte ich die Lord Peter Wimsey-Kriminalromane von Dorothy L. Sayers, selbst wenn sie mich in meiner Phantasie «nur» nach England transportierten und nicht nach New York.
    Ich hielt vor einem großen Reisekoffer, der an einem Bordstein lag und der den vielen Aufklebern aus fernen Ländern nach zu urteilen mehr in der Welt herumgekommen war, als ich es je tun würde. Der Koffer war voller englischer Bücher und gehörte einem ausgemergelten Mann mit dünnem Kinnbart und fahlen Augen. Ich stöberte ein bisschen, und zwischen lauter intellektuellen Büchern, die ich schon auf Polnisch nicht verstanden hätte, lag ein Lord Peter Wimsey-Roman:
Murder must advertise
.
    Ich wusste zwar nicht, was «advertise» heißen sollte, aber ich würde die Bedeutung des Wortes beim Lesen schon noch herausfinden. Jetzt musste ich nur noch gut verhandeln, damit ich das Buch auch ohne Geld bekommen konnte. Die Chancen dafür standen nicht schlecht. Bücher waren das einzige Gut im Ghetto, das von Tag zu Tag billiger wurde.
    Ich betrachtete den Verkäufer. Bestimmt war der Mann, wie so viele Händler hier, heute noch kein einziges Buch losgeworden. Und garantiert war er wie wir alle hungrig.
    Ich hielt ihm den Roman entgegen: «Ich geb dir dafür ein Stück von meinem Brot ab.»
    Der Mann war viel zu erschöpft, um mit mir zu feilschen. Er strich seinen Kinnbart und nickte. Gerade wollte ich meinen Brotlaib aus der Tasche holen, um ein Stück abzubrechen, da sah ich … Stefan!
    Er hastete an dem Buchverkäufer vorbei auf dem Bürgersteig entlang, ohne in meine Richtung zu blicken. Für einen Moment dachte ich, dass mir meine Augen einen Streich spielten. Erst nach ein paar Sekunden begriff ich, dass es sich bei diesem blonden jungen Mann im grauen Anzug wirklich um Stefan handelte. Doch da war er auch schon um die Ecke in eine Nebenstraße gebogen.
    Hastig steckte ich das Brot wieder in meine Tasche, drängelte mich an dem Verkäufer vorbei auf den Bürgersteig, ignorierte sein «Ich dachte, du wolltest mir was von dem Brot abgeben?»

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