28 Tage lang (German Edition)
Spalt konnte ich in den Flur sehen. Er war leer. Keine Möbel, nur kaputte dunkle Holzdielen und eine graue Tapete mit verblichenem Blumenmuster. Sollte ich hineingehen? Oder doch lieber draußen bleiben? Endlich nach Hause gehen, meinen Durst stillen, mich ärgern, dass ich Stefan wiedergesehen und gleich wieder verloren hatte, dann darüber nicht in den Schlaf kommen und stattdessen vor lauter Angst vor dem, was mich heute Nacht an der Mauer mit der Chompe-Bande erwartete, an den Fingernägeln kauen, bis sie blutig wurden?
Ganz klar: Hineingehen!
Ich drückte die Tür weiter auf und betrat den leeren Flur. Nichts war zu hören. Keine Schritte. Nicht mal Geraschel. Wenn hier Menschen waren, dann mussten sie schlafen. Am helllichten Tag.
Ich öffnete die erste Tür, die vom Flur abging, und ging in einen fast leeren Raum. Hier war früher in vielen Häusern – als nur eine Familie in so einer Wohnung lebte – die Küche gewesen. Doch in dieser gab es keinen Herd mehr, keine Küchenschränke, kein Essgeschirr. Dafür stand mitten im Raum eine alte Druckerpresse. Neben ihr lagen auf dem Boden stapelweise Zeitungen. Wobei Zeitungen ein relativer Begriff war, es waren eher achtseitige Flugblätter in miesester Druckqualität. Bei ihnen handelte es sich um Exemplare einer Ausgabe der Untergrundzeitschrift «Neuigkeiten», eines der unzähligen illegalen Blätter, die überall im Ghetto zu finden waren.
Mein Blick fiel auf den Kommentar auf Seite zwei: «Das Warschauer Ghetto lebt in konstanter Gefahr, ausgelöscht zu werden. Alle Energie muss darauf konzentriert werden für die große Tat, die wir ausführen müssen und die wir auch ausführen werden. Wir müssen uns verhalten im Geiste von Masada.»
Masada.
In dieser Festung in Palästina hatten einige wenige Juden vor Urzeiten monatelang der Belagerung von über viertausend römischen Legionären standgehalten. Als die Römer, die wegen des Widerstands der Juden unzählige Verluste erlitten hatten, endlich die Festung stürmten, herrschte in Masada Totenstille. Alle Bewohner hatten sich bereits selbst getötet. Krieger, Frauen und Kinder.
Der Geist von Masada – die Juden des Ghettos sollten also gegen die Deutschen kämpfen und sich dann am Ende selbst hinrichten. Widerstand bis in den Tod. Mir erschien das nicht sonderlich attraktiv.
«Was machst du da?», rief eine Stimme hinter mir.
Vor Schreck fuhr ich zusammen. Inständig hoffte ich, dass die Stimme Stefan gehörte, auch wenn sie gar nicht nach ihm klang. Vorsichtig drehte ich mich um. In der Tür, die zum Flur führte, stand ein dünner junger Mann. Seine braunen Haare waren ganz kurz geschoren, die Augen rot unterlaufen. Vielleicht hätte ich mich sogar gefragt, warum sie so blutig wirkten, hätte er nicht ein Messer in der Hand gehabt.
«Ich hab dich was gefragt!», fauchte er aggressiv, trat auf mich zu und fuchtelte wild mit dem Messer herum. Er schien nicht geübt im Umgang damit, aber er machte einen sehr entschlossenen Eindruck.
«Ich … ich …», stammelte ich. Was sollte ich nur antworten? Dass ich nach einem Stefan suchte, der eigentlich ganz anders hieß und von dem ich auch nicht wusste, ob er überhaupt etwas mit dieser Untergrundzeitung hier zu tun hatte?
«Antworte!»
Der Kerl fuhrwerkte jetzt mit dem Messer direkt vor meinem Gesicht herum. Wahrscheinlich dachte er, dass ich für die Deutschen spionierte. Fieberhaft überlegte ich, wie ich diesen Verdacht entkräften konnte.
«Sag schon! Sag schon, oder ich stech dich ab!»
Mit jedem Fuchteln wurde er aggressiver. Dennoch wirkte er nicht hundertprozentig entschlossen, mich zu töten. Noch nicht.
«Ich bin keine Kollaborateurin», antwortete ich. Meine Stimme bebte dabei, und ich begann zu zittern.
«Das glaub ich dir nicht! Was machst du sonst hier, wenn nicht für die Deutschen herumzuschnüffeln?»
Vor lauter Angst fiel mir nichts anderes ein außer die idiotische Wahrheit: «Ich such nach einem Jungen, der mich geküsst hat.»
Für einen Augenblick war mein Gegenüber so verblüfft, dass er mit dem Messer innehielt.
«Das ist die Wahrheit.»
Seine Miene verfinsterte sich noch mehr. Er glaubte mir kein Wort. Hätte ich an seiner Stelle auch nicht getan.
«Willst du mich für dumm verkaufen?», schrie er. Sein Kopf wurde dunkelrot vor Zorn, die Adern an seinem Hals pulsierten. Aber das Messer, das Messer hielt er jetzt ganz fest in der Hand, er fuchtelte kein bisschen mehr. Jetzt war er bereit, zuzustechen, mich zu
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