28 Tage lang (German Edition)
Nicht um mich. Oder?
«Ich weiß ja nicht mal genau, wer ihr seid», erwiderte ich zögerlich.
«Wir gehören zur Hashomer Hatzair.»
«Ihr wollt also alle nach Palästina auswandern», stellte ich fest. Ich kannte mich nicht sonderlich mit Politik aus, aber so viel wusste ich dann doch über die Organisation.
«Hier geht es nicht darum, ob man in Polen leben will oder in Palästina …»
«… oder in Amerika», vollendete ich.
«… meinetwegen auch in Amerika. Es geht darum, wie wir sterben wollen.»
«Du meinst es echt ernst damit, dass die Deutschen uns vernichten wollen», stellte ich erstaunt fest.
«Werden. Nicht nur wollen.»
Für ihn bestanden keinerlei Zweifel daran.
«Die Frage ist nur», fuhr er fort, «wie willst du sterben? Willst du ein Mensch sein, der sich wehrlos abschlachten lassen will? Oder einer, der sich wehrt?»
«Der Letzte, der mich gefragt hat, was für ein Mensch ich sein will, war ein Verrückter», erwiderte ich.
«Die Frage muss ein jeder von uns beantworten», hielt er dagegen. «Ob verrückt, ob normal, das ist egal.»
«Und du hast sie für dich beantwortet?»
«Fast zu spät», entfuhr es ihm. Er sah hastig aus dem verdreckten Fenster zum Friedhof, so als ob er sich für irgendwas schämte. Nein, schämen war ein zu schwaches Wort. Eher als ob er sich schuldig fühlte.
Auch wenn ich nicht genau wusste, was für ein Mensch ich sein mochte oder was Amos für einer gewesen war, eins wusste ich doch ganz genau: Ich würde meine Nächte nicht damit verbringen, blödsinnige Aufrufe zum Kampf zu drucken und mir dabei blutunterlaufene Augen zu holen. Ich würde schmuggeln, nicht kämpfen. Chompe-Bande statt Hashomer Hatzair!
«Das Ghetto wird überleben», widersprach ich, fest davon überzeugt, und erklärte Amos mit diesen Worten indirekt auch, dass ich kein Interesse hatte, seiner Gruppe beizutreten.
Er verstand und erwiderte: «Dann solltest du jetzt wohl gehen.»
Das war doch ziemlich abrupt. Diesmal lag nicht, wie damals auf dem Markt, ein Hauch von Wehmut in seinem Blick, weil sich unsere Wege vermutlich für immer trennen würden. Er wollte, dass ich aus seinem Leben verschwand. Und das tat mir weh. Mehr, als es hätte tun sollen. Aber doch nicht so sehr, dass ich mich seiner idiotischen Sache anschließen würde.
«Und falls du uns doch verraten solltest», drohte er, «werde ich dich finden.»
Er fasste dabei – ob bewusst oder nicht, konnte ich nicht sagen – an die Tasche seines Anzugs, in der das Messer steckte.
Mich fröstelte es.
«Ich verrate niemanden», erwiderte ich und ließ ihn zwischen den Matratzen stehen, ohne mich zu verabschieden. Und ohne mich noch einmal umzudrehen. Einen Menschen, der bereit war, mich zu töten, wollte ich nie mehr wiedersehen.
12
Der dritte Mensch nach Rubinstein und Korczak, den alle im Ghetto kannten, derjenige, den alle verachteten, war Adam Czerniakow, der Vorsitzende des Judenrates. Er stand keine fünf Meter entfernt von mir auf einem Podest mitten auf der Straße und hielt eine Rede. Er war ein fast kahler Mann mit großer Nase, einem perfekt sitzenden hellen Anzug und feinen, ganz sauberen Schuhen. Frei von Eitelkeit war dieser Mann nicht.
Hinter ihm hielt sich ein kleines Orchester bereit. Vor ihm standen kleine Kinder und deren Eltern und lauschten seinen Worten. Der Vorsitzende des Judenrates eröffnete einen neuen Spielplatz: «Denken Sie daran, auch wenn die Zeiten hart sein mögen und auch wenn sie noch härter werden sollten … Nein, denken Sie erst recht daran, wenn die Zeiten noch härter werden sollten: Kinder sind die Zukunft.»
Er wartete einen kurzen Augenblick, und einige Erwachsene taten ihm den Gefallen zu klatschen. Czerniakow nahm das bisschen Applaus in sich auf, als sei es ein Lebenselixier. Unwillkürlich musste ich an eine Figur aus Hannahs Geschichten denken. An den eine Million Jahre alten Apotheker Vandal, der Kinder quälte, um aus deren Tränen ein Unsterblichkeitselixier zu brauen. Als ich Hannah darauf aufmerksam machte, dass Vandal vor einer Million Jahre gar nicht gelebt haben konnte, weil es da noch keine Menschen gab, erwiderte sie nur: «Meine Geschichte, meine Gesetze.»
Es musste großartig sein, die Welt so zu gestalten, wie man wollte. Und sei es nur in der Phantasie.
Dem Rest von Czerniakows Rede hörte ich nicht mehr richtig zu, meine Begegnung mit Amos hatte mich durcheinandergebracht. Zu allem Überfluss rumorte der Apfelsaft in meinem Magen. Amos hatte zu
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