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28 Tage lang (German Edition)

28 Tage lang (German Edition)

Titel: 28 Tage lang (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Safier
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Vergeblich. Ich beginne zu spucken. Es ist so eng, dass ich andere Menschen treffe, mein Erbrochenes erreicht nicht mal den Boden.
    Die Leute werden panisch, drängeln alle im Dunkeln durch die Rauchschwaden in Richtung Tür. Doch die bleibt selbstverständlich verrammelt. Wer an ihr steht, wird von den anderen dagegengequetscht. In ihrer Panik ist das den Leuten egal. Es ist ihnen auch egal, dass Hannah zu Boden geworfen wird. Sie trampeln auf der Kleinen rum. Und sie schreit. Und schreit. Und schreit.
    Bis sie nicht mehr schreit.
    Ich will meine kleine Schwester vom Boden aufheben, aber ich kann nicht zu ihr hin, da die Masse mich von ihr wegdrückt. Dabei röcheln die Menschen mit der letzten Luft, die in ihren Lungen übrig bleibt, nach Hilfe und Erbarmen. Die Ersten sinken zu Boden. Bewusstlos.
    Ich kann Hannah nicht mehr entdecken. Mama auch nicht. In dem dunklen Wagen mit den rußigen Abgasschwaden ist rein gar nichts mehr zu sehen. Daniel versucht mich mit letzter Kraft zu halten, selbst im Sterben ist er für mich da. Sagen kann er aber nichts, weil auch er husten muss.
    Mir schwinden die Sinne, nicht mal mehr röcheln kann ich. Dann bricht auch Daniel zusammen, und wir fallen zu Boden. Oder besser gesagt, auf Leiber. Und auf uns wiederum andere Menschen, die ein bisschen länger ausgehalten haben als wir. Wir werden von ihnen erdrückt. Und ich kann nicht mehr atmen … nicht mehr atmen … nicht mehr …
     
    Ich rang vor dem Plakat nach Luft, fast so als ob ich schon in einen der Lastwagen gepfercht worden wäre.
    «So schlimm wird es schon nicht werden, Mädchen», stupste mich ein älterer Herr, der trotz des warmen Sommers einen Mantel über dem Hemd trug – vermutlich besaß er keine Anzugjacke mehr. «Die Deutschen haben zu wenig Arbeiter für die Felder in der Ukraine und Weißrussland, deswegen werden wir umgesiedelt.»
    So wie er es sagte, klang es nicht nach einem Pfeifen im Wald, er glaubte wirklich daran. Amos hätte ihn gewiss geschüttelt und angebrüllt: «Glaubst du, dass die Deutschen ausgerechnet einen alten Sack wie dich auf die Felder schicken?»
    Amos war doch kein Idiot gewesen, wie ich gedacht hatte.
    Vielleicht ein Arschloch.
    Ganz sicher ein Fanatiker.
    Aber kein Idiot.
    Er und seine Freunde hatten das hier kommen sehen. Während alle anderen blind waren. Wie ich.
    «Vielleicht», lächelte der Alte mir zu, «gehörst du ja sogar im Gegensatz zu mir zu den vielen Ausnahmen.»
    Ausnahmen?
    Tatsächlich, es gab Ausnahmen!
    Auf der Bekanntmachung stand auch, wer alles nicht in den Osten abtransportiert werden sollte: alle Juden, die in den Werkstätten des Deutschen Reiches arbeiteten, in den Hospitälern oder beim Desinfektionsdienst. Außerdem Mitglieder des Judenrates, deren Angestellte sowie Mitglieder der Judenpolizei …
    All das galt nicht für Mama, Hannah, Daniel oder mich.
    Doch da stand noch eine Ausnahme unter Paragraph  2 g):
    Alle jüdischen Personen, die engste Familienangehörige der unter A–F aufgezählten Personen sind.
    Für einen Augenblick schöpfte ich wieder Hoffnung. Mein Bruder Simon war bei der Judenpolizei, wir waren seine Angehörigen, also mussten wir nicht in den Osten, was übersetzt hieß: in die Lastwagen.
    Erleichtert atmete ich aus.
    Aber dann las ich 2 g) zu Ende: Familienangehörige sind ausschließlich Frauen und Kinder.
    Für die Deutschen waren wir keine Familienangehörigen meines Bruders. Seine Mutter war nicht seine Verwandte und wir Schwestern erst recht nicht.
    Absatz  2 g) war also keine Hilfe: Mein Vater war tot, und meine Mutter arbeitete nicht. Von daher waren Hannah und ich nicht die Kinder einer «jüdischen Person», die von der Umsiedelung ausgenommen war.
    Eine Ehefrau war ich auch nicht. Vielleicht hätte ich auf die Schnelle einen Rabbi finden können, der mich aus Mitleid mit einem Mann verheiratete. Bestimmt fanden bereits in diesem Moment schon Hochzeiten im Ghetto statt, die einzig und allein dem Zweck dienten, jemand zu Ehefrau oder Ehemann zu machen, um ihm oder ihr die Haut zu retten. Liebe spielte bei solchen Hochzeiten keine Rolle mehr. Oder ganz im Gegenteil, womöglich spielte sie sogar die Hauptrolle. War nicht jemanden zu heiraten, um dessen Leben zu retten, die höchste Form von Liebe?
    Doch mit wem hätte mich ein gnädiger Rabbi schon verheiraten können? Der Einzige, der mich zur Frau genommen hätte, wäre Daniel. Doch der gehörte nicht zu den Personen, die von der Umsiedlung ausgenommen waren. Mein

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