28 Tage lang (German Edition)
Gott, was würde mit ihm und den Waisenkindern geschehen? Konnte Korczaks Ruhm sie schützen? Würden die Deutschen davor zurückschrecken, diesen weltberühmten Mann und seine zweihundert Kinder aus dem Ghetto zu vertreiben?
Neben mir begann eine Frau zu weinen, doch niemand in der Menge kümmerte sich um sie. In allen Hirnen arbeitete es fieberhaft, wie wohl die jeweiligen eigenen Möglichkeiten waren. Auch wenn die meisten nicht daran glaubten, dass es bei der Umsiedlung in den Tod ging, wollte niemand mit spärlichem Hab und Gut – unter Absatz 3 stand, dass jeder lediglich fünfzehn Kilogramm mitnehmen durfte – in eine ungewisse Zukunft gehen. Lieber der bekannte Schrecken des Ghettos als eine Umsiedlung in ein gewiss ebenso fürchterliches, dazu aber auch noch unbekanntes Land.
Mir war die weinende Frau ebenso völlig egal. Ich musste zu meinem Bruder. Auch wenn die Deutschen bestimmt hatten, er wäre kein Verwandter von uns im Sinne von Absatz 2 g), war Simon nun mal unsere einzige Möglichkeit auf Rettung. Er musste uns helfen, uns irgendwelche Dokumente besorgen, die uns schützten.
Ich machte mich auf den Weg in die Ogrodowa-Straße 17 , dem Hauptquartier der Judenpolizei, einem Gebäude, in dem auch die SS untergebracht war. Während ich durch die Straßen eilte, rang ich mit mir, ob ich einen kurzen Abstecher nach Hause machen sollte, um meine kleine Schwester in den Arm zu nehmen und ihr zu sagen, dass alles gut werden würde, auch wenn ich vermutete, dass das nicht die Wahrheit war.
Sicher hatte Hannah gerade furchtbare Angst. Gewiss auch um ihren Freund Ben Rothaar, falls dessen Eltern nicht gerade zu den Ausnahmen im Sinne der Deutschen zählten. Und wer konnte Hannah schon ihre Angst nehmen, außer mir? Mama gewiss nicht.
Da fiel mir ein, wie Papa mich damals in den Arm genommen hatte, nachdem wir an jenem kalten Novembertag nach der Demütigung durch den deutschen Soldaten wieder nach Hause gekommen waren. Während er Simons Wunden versorgte, strich er mir immer wieder mit seiner rauen Hand über das Haar und sagte ebenfalls: «Alles wird gut.» Seine traurigen Augen verrieten aber, dass er selbst daran nicht mehr glaubte. Die Schmähung war schon schlimm für mich gewesen, Papas Hilflosigkeit aber noch mehr. Dass er mich auch noch anlog, selbst wenn er es gut meinte, war für mich an diesem Tage das Fürchterlichste gewesen. Auch wenn es von mir ungerecht war, diese Lüge hatte mich besonders wütend auf ihn gemacht.
Die Vorstellung, Hannah genauso anzulügen und dass sie mir gegenüber genauso viel Zorn empfinden würde, war unerträglich. Ich entschloss mich daher, nicht nach Hause zu gehen. Jedenfalls nicht bevor ich mit Simon gesprochen hatte und er seinen verdammten Einfluss bei der Judenpolizei geltend machte – hoffentlich war der nicht nur Angabe gewesen, um bei den Nutten im Britannia-Hotel aufzutrumpfen.
Es war schwer, durch die Straßen zu kommen. Überall standen die Menschen in kleinen Grüppchen zusammen und diskutierten, was die Ankündigung der Deutschen wohl konkret bedeuten mochte. Im Vorbeigehen schnappte ich auf, dass bereits gestern ungefähr sechzig Personen von den Deutschen verhaftet worden waren, hauptsächlich bekannte Juden, sogar Mitglieder des Judenrates. Sie alle wurden ins Pawiak-Gefängnis verschleppt. Die SS hatte sie als Geiseln genommen und drohte damit, sie zu töten, sollte die Bevölkerung ihren Anweisungen zur Umsiedlung nicht folgen.
Trotz dieser Gewaltandrohung redete kaum jemand darüber, dass diese «Aktion», wie die Umsiedlung auch genannt wurde, für die Deportierten im Tod enden würde. Die generelle Meinung war, dass vielleicht 60000 Menschen zur Arbeit umgesiedelt werden würden und der Rest im Ghetto bleiben könne. Und da so viele dieser Ansicht waren und ich meine eigene Panik kaum aushielt, begann ich mich zu fragen, ob die Leute nicht vielleicht doch recht hatten: Womöglich würden wir doch nicht alle getötet, vielleicht landeten nur einige in den Lastwagen. Vielleicht war Chełmno sogar wirklich eine Erfindung von jemandem mit einer furchtbaren Phantasie, und ich hatte mich beim Lesen der Ankündigung von dieser Schreckensgeschichte verrückt machen lassen.
Ich malte mir aus, wie Hannah, Mama und ich im Osten auf sonnigen Feldern Weizen ernteten. Solche Felder wären gewiss schön. Schöner als das Ghetto.
Der Gedanke an Sonne und Weite ließ mich ruhiger werden.
Verrückt, wie schnell man wieder hoffen konnte.
Ich
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