28 Tage lang (German Edition)
sein Gefolge, sondern, ganz im Gegenteil, SS -Soldaten.
Die Menschen, die eben noch das Gebäude betreten wollten, rannten davon. Alle wussten: Judenpolizisten schlugen lediglich zu, die SS erschoss Juden.
Doch ich blieb wie erstarrt stehen. Hinter den vielleicht zwanzig mit Gewehren und Pistolen bewaffneten SS -Männern gingen Judenpolizisten als Geleit. Und mit ihnen, bekleidet mit einer hellen Jacke, braun gewienerten Stiefeln und einer Mütze, deren lackierter Schirm in der Sonne glänzte, marschierte Simon.
Er sah so viel kindlicher aus als die anderen Polizisten, obwohl viele von ihnen genauso wie er schätzungsweise um die zwanzig Jahre alt sein mochten. So wie viele der SS -Soldaten auch. Deutlich älter war nur der Anführer der Deutschen, ein blonder Mann in schwarzer Uniform, dessen viele kleine Narben im Gesicht verrieten, dass er als junger Mensch unter fürchterlichen Pickeln gelitten hatte. Dieser SS -Mann, der geschäftsmäßig dreinblickte, trug eine Reitgerte am Bund.
Die war wohl nicht für Pferde gedacht.
Simon versuchte seine mangelnde Männlichkeit zu kaschieren, indem er besonders entschlossen dreinblickte. Ob er bei seinen Einsätzen genauso mit seinem Knüppel auf Juden einschlug wie seine Kameraden vorhin? Dumme Frage. Natürlich tat er das. Ich wollte nach ihm rufen, aber meine Stimme versagte.
Der Trupp marschierte zu den Lastwagen. Ich stand den Deutschen als Einzige noch im Weg. Ich wollte wegrennen, aber meine Beine waren immer noch wie gelähmt. Meinen Bruder zusammen mit der SS zu sehen …
Die Deutschen gingen auf mich zu, vorweg der Mann mit der Gerte. Die Augen der Soldaten waren starr nach vorne gerichtet. Sie wirkten so, als ob sie mich gar nicht sähen. Oder nein, besser gesagt, als ob ich ein Insekt wäre, das man zertrat, wenn es nicht schnell genug aus dem Weg krabbelte.
Ich wollte wegrennen. Wegkrabbeln. Ich musste!
Aber ich konnte nicht.
Und die Soldaten kamen direkt auf mich zu. Ihre gleichmäßigen schweren Stiefelschritte dröhnten in meinen Ohren, alles andere an Geräuschen nahm ich nicht mehr wahr. Der Anführer mit der Gerte war nur noch wenige Schritte von mir entfernt. Hieß so einer Major, Leutnant, Obersturmbannführer? War das in diesem Augenblick nicht völlig egal?
Hinter ihm marschierte seine Truppe und dahinter wiederum die Judenpolizisten. Der Anführer fixierte mich und erkannte garantiert, dass ich nicht in der Lage war, mich zu bewegen. Er änderte jedoch nicht die Richtung, blickte mich nur kalt an. Ein Deutscher änderte nicht die Richtung wegen einer Jüdin. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich für ihn nur jemand war, der im Weg stand. Wir Juden standen den Deutschen im Weg.
Und was lag dahinter?
Keine Ahnung. Die Weltherrschaft? Eine arische Gesellschaft? Die Glückseligkeit? Oder einfach nur ein virusfreies Leben?
Wir waren Bazillen, die vernichtet werden mussten.
Nicht mehr wert. Weder Beachtung. Noch Gefühle. Ganz gewiss nicht Gefühle. Nur Mühe. Lästige Mühe.
In diesem Augenblick, in dem ich in die gleichgültigen, kalten Augen des SS -Mannes blickte, begriff ich endgültig: Sie wollen uns alle töten.
Die Hoffnung, die ich vorhin noch so gern mit vielen anderen im Ghetto teilen wollte, dass die Umsiedlung nichts anderes war als eben nur eine Umsiedlung, war endgültig zerstört.
Und das lähmte mich noch mehr.
Ich wollte nach Simon rufen, damit er mir half. Er war doch mein Bruder!
Aber ich bekam keinen Ton heraus.
Der Anführer griff an seinen Gürtel. Würde er die Gerte nehmen? Oder die Pistole?
Ein Schlag mit der Gerte, ein Schlag mit der Gerte! Ich hoffte so sehr auf den Schlag mit der Gerte!
Seine Hand ging zum Revolver.
Hinter den Soldaten löste sich mit einem Mal ein Judenpolizist aus der Marschordnung und rannte nach vorne.
Simon!
Wollte er sich der Kugel in den Weg stellen?
Für seine Schwester sterben?
Unvorstellbar.
Und dennoch: Er stürzte auf mich zu und schrie mich an: «Verschwinde, du Dreckstück!»
Mein eigener Bruder nannte mich Dreckstück.
«Hast du nicht verstanden? Aus dem Weg!»
Er schubste mich brutal weg. Ich verlor das Gleichgewicht, stürzte zu Boden, direkt auf meinen verletzten Arm, und schrie auf. In meinem Schmerz dachte ich, dass die Nähte meiner Wunde aufgeplatzt waren.
Ich sah schwarze, blank gewienerte Stiefel. Keine zwanzig Zentimeter von mir entfernt.
Panisch sah ich hoch. Der Anführer musste stehen bleiben, da ich vor ihm auf dem Boden lag. Seine Hand zog die
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