28 Tage lang (German Edition)
Pistole aus dem Halfter.
Simon stand neben mir und schrie: «Beweg dich, beweg dich!»
Hatte er Angst um mein Leben? Oder um seines?
Er nahm seinen Knüppel und …
… schlug auf mich ein.
Mein Bruder schlug auf mich ein!
Er traf mich an der Schulter. Ich schrie vor Schmerz auf. Und vor Leid. Mein eigener Bruder schwang den Knüppel gegen mich und schrie dabei: «Beweg dich endlich, du Miststück!»
Und der Knüppel sauste gegen meinen Brustkorb.
Der Schlag vibrierte durch meinen ganzen Körper. Es tat unglaublich weh. Aber ich gehorchte und robbte zur Seite. So schnell es ging. Doch Simon schwang weiter den Knüppel, ich war ihm nicht schnell genug. Er traf mich erneut am Fußknöchel. Ich schrie auf, mein ganzer Körper schien vor Schmerz zu explodieren. Mein Bruder versetzte mir noch einen Tritt, der mich zur Seite rollen ließ.
Nachdem ich endlich aus dem Weg war, schubste der SS -Führer Simon beiseite, steckte seine Pistole wieder in den Halfter, und die Truppe ging an mir vorbei.
Simon hatte mir mit seinen Schlägen das Leben gerettet.
Zusammengekrümmt lag ich auf der Straße, hielt mir mit einer Hand die Schulter, mit der anderen die Rippe, als ob das Handauflegen Schmerzen lindern könnte, und wimmerte vor mich hin, jaulte sogar auf.
Über mir stand mein Bruder, der mir das Leben gerettet hatte.
Keuchend. Zitternd. Wutverzerrt.
Er sah nicht aus wie der Retter seiner Schwester. Ganz im Gegenteil, er sah aus, als ob er am liebsten gleich noch mal mit dem Knüppel zugeschlagen hätte. Vor lauter Wut, dass ich ihn in die Situation gebracht hatte, mich vor der Kugel bewahren zu müssen und dabei womöglich selbst erschossen zu werden.
Die Soldaten waren an uns vorbeigegangen, die Judenpolizisten folgten ihnen. Simon musste sich einreihen, sich auf den Weg machen, die Nazis zu irgendeiner furchtbaren Aktion zu begleiten, bei der er gewiss irgendwie mitmachen musste und dabei vielleicht sogar zusah, wie Kinder erschossen wurden.
Auch wenn Simon selbst nicht schießen würde, würde er sich mitschuldig machen.
Ein Täter. Mein Bruder, der mir gerade mit seinen Knüppelschlägen das Leben gerettet hatte und mich dafür hasste.
So wie ich, die ich vor ihm auf dem Boden wimmerte, ihn hasste. Aus ganzer Seele. Für das, was er anderen antun würde. Und was er mir angetan hatte.
Er zischte mir noch zu: «Ich komm nachher zu euch nach Hause und helfe.»
Ich röchelte nicht: Bleib weg.
Mein Wille zu überleben war größer als mein Stolz. Und Simon war nun mal der Einzige, der uns noch vor dem Tod retten konnte.
Dafür hasste ich ihn noch mehr.
Er kletterte mit den anderen Polizisten auf einen der Laster. Die Wagen brausten los. Zweifellos, um die ersten Juden für die Umsiedlung zusammenzutreiben. Die Abgase der Wagen stiegen mir in die Nase, während ich auf dem Boden lag, zu schwach, um wieder aufzustehen.
Ein Hauch von Chełmno.
16
Auch wenn Simon mich hart an Schulter und Rippe getroffen hatte und mich die Prellungen dort unglaublich schmerzten – ganz zu schweigen von der Wunde am Arm, die glücklicherweise nicht aufgeplatzt war –, behinderte mich mein Knöchel doch am meisten. Jede einzelne Stufe im Treppenhaus der Miła-Straße 70 kostete mich Überwindung, und als ich an der Wohnungstür angekommen war, pochte der Knöchel so sehr, dass ich das Gefühl hatte, er wäre ein eigenes, fußballgroßes Wesen mit heftigem Herzschlag.
Ich öffnete die Tür, bei der Familie aus Kraków herrschte große Betriebsamkeit. Von den Leuten hier arbeitete niemand für den Judenrat, für die Judenpolizei oder für eine der Werkstätten des Reiches, sie alle bereiteten sich daher auf die Umsiedlung vor. Die Männer, indem sie beteten, und die Frauen, indem sie die schäbigen Koffer zusammenpackten, dabei abwägend, welche Sachen zu den von den Deutschen erlaubten fünfzehn Kilo gehören sollten.
Am liebsten hätte ich sie angeschrien: «Es ist völlig egal, was ihr für euren Tod einpackt!»
Noch lieber hätte ich ihre orthodoxen Männer angebrüllt: «Was soll das Beten bringen? Euch hört da oben ja doch keiner zu! Jedenfalls keiner, der es wert ist, angebetet zu werden.»
Doch was hätte es schon genützt? Geglaubt hätten sie mir ohnehin nicht. Und selbst wenn ich sie von dem schrecklichen Schicksal hätte überzeugen können, das die Nazis für sie bereithielten, was sollten diese Leute tun?
Kämpfen? Wie bei Masada? Diese Frauen? Mit ihren betenden Männern? Und ihren fleißigen kleinen
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