28 Tage lang (German Edition)
Mädchen, die halfen, die Koffer zu packen? Und den kleinen Jungen mit den langen Schläfenhaaren, die in kleinen Locken herunterbaumelten, und die mit einem kleinen Ball spielten?
Das waren alles keine Kämpfer. Oder gar Helden. Das waren Menschen, für die es wahrscheinlich besser war, mit einer Illusion in den Tod zu gehen.
Nein, kämpfen konnten nur die jungen Männer und Frauen. Wie Amos. Oder seine Esther. Oder auch …
… ich?
Nein, ich hatte Hannah, um die ich mich kümmern musste.
Am liebsten hätte ich mich zu den Männern gehockt und gebetet, dass meine kleine Schwester überleben würde. Ich glaubte nicht mehr an Gott, aber ein Teil von mir wollte noch auf ihn hoffen.
In diesem Moment fiel mir auf, dass ich kein einziges jüdisches Gebet mehr auswendig konnte. Nur noch die katholischen, die ich gelernt hatte, um mich beim Schmuggeln zu tarnen. Na, da würden sich die orthodoxen Männer hier aber freuen, wenn ich mich zu ihnen setzte und das «Magnificat» vortragen würde. Ich musste grinsen. Bitter.
Eine besonders alte Kopftuchfrau sah das und war entsprechend irritiert. Ich hörte schlagartig auf zu grinsen. Es fühlte sich unanständig an, diesen Menschen das Gefühl zu geben, ich machte mich über sie lustig. Selbst wenn ich es gar nicht tat. Gesenkten Blickes humpelte ich an ihnen vorbei und fühlte mich dabei selbst wie ein altes Weib. Nicht nur wegen meines geschundenen Körpers, sondern auch, weil es schwer auf mir lastete, diese Leute nicht vor ihrem Schicksal zu warnen, selbst wenn es das Richtige war, es nicht zu tun.
Ich ging durch die Tür in unser Loch, das für mich mit einem Mal eine Zuflucht war, die ich nie wieder verlassen wollte.
Mama lag mal ausnahmsweise nicht auf ihrer Matratze, sondern saß am Tisch. Vermutlich hatte sie schon lange auf mich gewartet, schließlich war ich schon seit der letzten Nacht verschwunden. Sie hatte davon ausgehen müssen, dass ich beim Schmuggeln erwischt worden war. Bei meinem Anblick atmete sie durch. Nicht völlig erleichtert – dazu sah ich zu mitgenommen aus –, aber sichtlich froh, dass ich lebte.
Hannah sah von einem meiner englischen Bücher auf –
Alice in Wonderland
. Sie versuchte nicht nur mit Hilfe des Buches Englisch zu lernen, so wie ich, sie wollte auch herausfinden, wie große Erzähler ihre Geschichten bauten, selbst wenn sie nur einen Bruchteil der Handlungen in der Fremdsprache überhaupt verstand.
Die beiden waren aber nicht allein in ihrer Sorge um mich gewesen.
«Du bist da!», rief Daniel erleichtert, wohl registrierend, in welchem Zustand ich «da war».
«Gut beobachtet», scherzte ich schwach. Ich wollte ihnen allen das Gefühl vermitteln, alles sei halb so schlimm.
Daniel lächelte. Mir zuliebe. Das Großartigste an ihm war, dass er wusste, wann er schweigen musste. Er fragte mich nicht, wo ich gewesen war, nicht, wer oder was mich so zugerichtet hatte. Auch wenn diese Fragen sicherlich auf seiner Seele brannten. Erst recht machte er mir keine Vorwürfe, in der Art von «Ich hab dich doch gewarnt zu schmuggeln», so etwas zu tun wäre ihm nicht einmal in den Sinn gekommen. Er nahm mich einfach nur in die Arme und hielt mich fest.
Ich begann zu weinen.
Weil mein eigener Bruder mich niedergeknüppelt hatte. Weil die Menschen aus Kraków sterben würden und ich sie nicht warnen konnte. Oder besser gesagt wollte. Und weil ich in den Augen des Deutschen gesehen hatte, dass ich für ihn kein Mensch war. Wir alle nicht. Auch nicht Hannah.
Ich konnte meine Tränen nicht stoppen.
Daniel hielt mich fest. Ohne ihn wäre ich in diesem Moment in mir zusammengebrochen.
Ich schluchzte. Bis er zu sprechen anhob und sagen wollte: «Alles wird gu…»
«Sag das nicht», bat ich und löste die Umarmung. Ich wollte diese Lüge nicht hören. Dieses hilflose Gerede. Ich wollte auf Daniel nicht so wütend werden wie damals auf meinen Vater.
Hannah ging auf mich zu und stellte fest: «Du siehst aus wie schon mal gegessen.»
Jetzt musste ich sogar lachen. Etwas hysterisch, aber immerhin.
«Was ist geschehen?», fragte Mama und schien dabei nicht sicher zu sein, ob sie das wirklich wissen wollte.
Ich entschied mich dafür, eine geschönte Version der Ereignisse zu erzählen. Ich erwähnte die fehlgeschlagene Schmuggelaktion mit keiner Silbe, fragte mich aber selbst in Gedanken für einen kurzen Moment, wie ich sie Ascher erklären sollte. Denn Umsiedlung oder nicht, der Mafiaboss würde wissen wollen, was aus seinem
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