28 Tage lang (German Edition)
Und falls doch, sich wohl kaum für seine Leistungen in der Reformpädagogik interessieren.
«Seit Czerniakow tot ist, hat Korczak keinen Kontakt mehr zum Judenrat», erzählte Daniel besorgt in einem unserer friedlichen Augenblicke, in denen wir auf meiner Matratze aneinandergekuschelt lagen.
Der Vorsitzende des Judenrates hatte schon gleich zu Beginn der Aktion Zyanid geschluckt, da er, so munkelte man, den Nazis nicht helfen wollte, Kinder in den Tod zu schicken. Das sprach dafür, dass der alte Jurek recht gehabt hatte: Czerniakow hatte wirklich geglaubt, für die Juden etwas rausholen zu können, und als er erkannte, dass es vergeblich war – dass sein ganzes Leben vergeblich war –, hatte er sich umgebracht.
«Dafür bekommt Korczak ständig Angebote», berichtete Daniel weiter, «dass man ihn aus dem Ghetto schmuggelt. Die Auslandsjuden bedrängen ihn regelrecht, haben jede Menge Geld für ihn gesammelt. Aber er sagt, dass er mit seinen Waisenkindern auch in den Tod gehen würde und …»
«Psst.» Ich legte den Finger auf seine Lippen.
Ich wollte nichts vom Tod hören.
Ich wollte nur für immer auf dieser Matratze liegen. In diesem Zimmer. Abgeschieden von der Welt. In den Armen von Daniel.
Aber das ging natürlich nicht. Jedenfalls nicht, wenn meine Familie nicht verhungern sollte.
Ich hatte mich verschätzt, die Lebensmittel im Haus reichten nicht aus, weil wir natürlich nicht die Einzigen waren, die die leeren Wohnungen plünderten. Da waren zum einem die Leute, die wie wir übrig geblieben waren, zum anderen aber auch Obdachlose, die alle Schränke nach Essbarem durchwühlten. Zweimal musste ich sogar welche aus unserer Wohnung vertreiben.
Simon hatte sich in der Zwischenzeit kein einziges Mal mehr hier blicken lassen, anscheinend hatte er das Gefühl, genug für uns getan zu haben. Oder er war viel zu sehr damit beschäftigt, Juden totzuschlagen. Höchstwahrscheinlich stimmte beides. Wie auch immer, ich musste zu meinem Bruder und ihn dazu bringen, uns Essen zu besorgen.
Am elften Tag der Aktion trat ich das erste Mal wieder auf die Straße. Meine Wunden waren so gut wie verheilt und mein Fuß nicht mehr geschwollen. Trotzdem blieb ich erst mal einen Augenblick auf der Treppe zum Eingang stehen, denn ich war überrascht, wie heiß es war. Die Augustsonne brannte, und hätte es Grün im Ghetto gegeben, wäre es bestimmt verdorrt.
Aber nicht nur durch die Hitze wirkte das Ghetto anders als noch ein paar Tage zuvor. Hatte vor der Aktion noch ein erdrückender Schleier der Verzweiflung und Depression über ihm gelegen, war es jetzt einer der Angst. Die Menschen eilten hektisch auf den Straßen umher. Mit gehetztem Gesicht. Auf der Suche nach Arbeit. Auf der Suche nach einer Bleibe. Auf der Flucht vor der Umsiedlung.
Keine zwanzig Meter von unserem Hause entfernt sah ich einen älteren Mann mit unnatürlich blonden Haaren gehen, der mir irgendwie bekannt vorkam. Ich brauchte einen kurzen Moment, ehe ich begriff, wer da entlanghuschte.
«Jurek?», rief ich.
Der Mann blieb stehen. Es war tatsächlich Jurek. Aber seine Haare waren nicht mehr grau, sondern gefärbt, er war rasiert und gekämmt. Durch all das wirkte er vielleicht zehn Jahre jünger. Nicht, dass ihn das wirklich zu einem jungen Mann gemacht hätte.
Er erkannte mich auch, aber er hielt nicht an.
Ich lief zu ihm, stellte mich ihm in den Weg, und anstatt ihn zu begrüßen, fragte ich direkt: «Du … du hast dir die Haare gefärbt?»
«Ich musste meinen Laden schließen, und ich brauche Arbeit, ganz, ganz dringend Arbeit.» Seine Stimme klang niedergeschlagen. «Die Deutschen wollen nur die produktiven Juden behalten. Alten Menschen geben sie keine Arbeit …»
Seine Augen flackerten. Nichts war mehr übrig von dem alten Mann, der dem Tod gelassen entgegensieht, weil er auf ein schönes und erfülltes Leben zurückblickt.
Wenn der Tod wirklich nahte, das begriff ich nun, war niemand gelassen.
«Deswegen hast du dir die Haare gefärbt.» Ich konnte es nicht fassen. Zu meiner noch größeren Überraschung erkannte ich, dass er sich sogar ein wenig mit Rouge geschminkt hatte, um jünger auszusehen.
«Ich bin nicht der Einzige. Schau dich um», sagte er. Und tatsächlich: Einige alte Frauen hatten sich wie Jurek die Haare gefärbt.
«Schau dir die beiden an …» Jurek zeigte auf zwei Jungs, die mit ihren Eltern vorbeigingen. Die Kinder waren nicht viel älter als Hannah, aber sie trugen Anzüge und Krawatten, die sie älter
Weitere Kostenlose Bücher