28 Tage lang (German Edition)
Straßen des Ghettos. In meiner Eile rempelte ich Leute an, ich stieß sogar eine alte Frau um, die ich beim Einbiegen in die nächste Straße nicht gesehen hatte. Mir war es in diesem Moment völlig egal, dass die Alte auf die Straße fiel und anfing zu weinen. Mir war es auch egal, dass es wohl keine gute Idee war, zu Korczaks Waisenhaus zu laufen, wenn es gerade geräumt wurde, war ich doch so jung, dass man mich selbst für eine Bewohnerin halten und deportieren könnte. Ich wollte einfach nur zu Daniel. Ich wollte, dass er verschont blieb, dass Korczaks Gönner aus dem Ausland so viel Geld gesammelt hatten, dass man damit nicht nur ihn aus den Klauen der Nazis befreien konnte, sondern auch seine Kinder.
Völlig außer Atem erreichte ich das Waisenhaus. Nirgendwo waren Truppen zu sehen. Entweder bedeutete das, dass ich zu spät war …
Nein, das durfte es nicht bedeuten!
Die Kinder waren gewiss noch nicht auf dem Umschlagplatz.
Daniel war nicht auf dem Umschlagplatz!
Das redete ich mir jedenfalls ein, als ich auf die Tür zuging. Mit jedem Schritt wurde ich langsamer. Ich hatte eine unfassbare Angst, dass ich nach dem Öffnen niemanden mehr vorfinden würde, sondern nur noch umgestürzte Möbel, zerschlagene Teller, herumliegendes Kinderspielzeug, vielleicht einen zerfetzten Teddy, aus dem die Füllung gerissen war wie aus einem tödlich verwundeten Wesen.
Ich konnte mir noch so sehr einreden, dass Daniel nicht auf dem Umschlagplatz war, die Furcht war größer als meine Hoffnung.
Zitternd drückte ich die Klinke herunter und öffnete die knarzende Tür. Als sie aufhörte zu knarzen, hörte ich …
… nichts.
Es war still. Wie ausgestorben.
Wie ausgestorben – mir war noch nie zuvor bewusst gewesen, wie schrecklich dieser Ausdruck war.
Ich hielt die Luft an. Vielleicht hatte, so meine Hoffnung, mein keuchender Atem mich ja irgendwelche Geräusche überhören lassen. Doch es war immer noch nichts zu hören. Verzweifelt atmete ich aus. Ich wollte die Tür wieder schließen, mich auf die Straße setzen und weinen, da hörte ich von oben eine Jungenstimme rufen: «Sie wird sterben.»
Ich eilte die Treppen hoch. Anscheinend waren zwei Kinder übrig geblieben, und eines davon lag im Sterben. Waren noch mehr da und hielten sich versteckt? Mit Daniel?
Ich stieß die Tür zum Saal auf, und dort standen alle Kinder des Waisenhauses mit dem Rücken zu mir und sahen gebannt auf eine improvisierte Theaterbühne. Bei ihnen standen ihre Betreuer. Und Korczak. Und Daniel! Daniel! Daniel!
Jetzt begann ich zu heulen.
Die Kinder, die direkt bei mir standen, sahen mich irritiert an. Dabei war auch wieder das kleine Mädchen mit dem rot gepunkteten Kleidchen, das mir schon einmal die Zunge rausgestreckt hatte und es jetzt wieder tat. Ich brauchte ein paar Augenblicke, bis ich mich wieder im Griff hatte und ihr ebenfalls die Zunge rausstreckte.
Auf der Bühne lag ein Mädchen in einem Bettchen und spielte, dass es an Fieber starb. Der Junge, dessen Stimme ich unten gehört hatte, war als Rabbiner verkleidet, komplett mit schwarzem Umhang, weißem Gebetsschal und falschem Bart. Um den Rabbi und die Sterbende herum standen Kinder in allen möglichen Größen und Altersstufen und spielten, dass sie von der Kleinen Abschied nahmen. Der Rabbi sprach: «Sie wird nicht mehr leiden müssen, keinen Kummer mehr haben und keine Schmerzen. Sie wird es besser haben als zuvor.»
Die Trauernden trösteten diese Worte. Die im Sterben Liegende schloss selig die Augen und schlief friedlich ein, für immer. Alle gaben ihr nacheinander einen liebevollen Kuss, auf die Wange oder die Augenlider oder gar auf den Mund – sicherlich genoss der ein oder andere Junge diese Gelegenheit, endlich mal einem Mädchen einen Kuss auf die Lippen zu drücken.
Als die Trauerprozession zu Ende war, begann Korczak zu klatschen, und alle im Publikum stimmten in den Applaus mit ein. Daniel ganz besonders. Er war jemand, der die Kleinen lobte, wo es nur ging, und sie damit bestärkte.
Ich wischte mir die Tränen mit dem Ärmel meiner Bluse aus dem Gesicht und ging durch die Menge der klatschenden Kinder zu meinem Freund. Als er mich sah, war er sichtlich erstaunt. Seit dem Beginn der Aktion hatten wir uns ja nur in dem kleinen, vermeintlich geschützten Reich meines Zimmers gesehen. Außerhalb davon waren wir das letzte Mal zusammen gewesen, als Juden noch nicht wie Vieh abtransportiert wurden. Vor elf Tagen, vor einer Ewigkeit.
Daniel klatschte
Weitere Kostenlose Bücher