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28 Tage lang (German Edition)

28 Tage lang (German Edition)

Titel: 28 Tage lang (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Safier
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aus.»
    «Von mir aus auch», lachte Hannah.
    «Ich kann mit meiner Matratze umziehen», schlug Mama vor.
    «In dem einen Zimmer ist ein Bett, das kannst du doch nehmen», bot ich ihr an. Doch sie erwiderte: «Ich leg mich nicht ins Bett von fremden Leuten.»
    Das konnte ich verstehen.
    «Das wird toll», freute sich Hannah.
    Es war verrückt: Wir hatten Essen. Wir hatten Platz. So gut hatten wir es seit langem nicht gehabt.

20
    So oft es ging, und das war leider nicht häufig, kam Daniel uns besuchen, und jedes Mal, wenn wir uns zum Abschied lange küssten, sagte Hannah Dinge wie: «Nicht hier, Kinder sind anwesend», «Euer Geschlabber ist echt eklig», oder «Könnt ihr mal endlich aufhören, euch in die Köpfe zu beißen?»
    Wenn sie uns so sah, vermisste sie ihren Ben Rothaar noch mehr als ohnehin schon. Der Junge hatte sich nicht mehr bei ihr blicken lassen. War er verschleppt worden? Oder dachte er, Hannah wäre schon längst in den Zügen verschwunden, da unser Haus ja als eins der ersten gesäubert worden war, und weinte sich deswegen Tag für Tag die Seele aus dem Leib? Aber warum war er dann nicht vorbeigekommen, um nach ihr zu sehen? Weil er es nicht ertragen konnte? Oder liebte er Hannah einfach nicht mehr? Was wusste ich schon über fünfzehnjährige Jungen und ihre Gefühle?
    Obwohl meine kleine Schwester von Tag zu Tag unglücklicher wurde und so sehr litt, dass sie manchmal sogar vergaß zu essen, verließ sie nicht die Wohnung, um ihrerseits nach Ben Rothaar zu suchen.
    «Ich geh nicht auf die Straßen», erklärte sie. «Ich bin nicht so wie die Kinder in den Geschichten, die immer in einen dunklen Wald oder in ein verwunschenes Haus latschen, obwohl jeder, aber auch wirklich jeder, sie davor gewarnt hat.»
    Im Ghetto wurden die Menschen nicht mehr allein von den Judenpolizisten zum Umschlagplatz getrieben. Jetzt nahm die SS die Dinge selber in die Hand mit ihren Hilfstruppen aus Lettland, der Ukraine oder Weißrussland. Männer, die sich den deutschen Besatzern nach der Eroberung ihrer Heimat freudig angeschlossen hatten. Für einen Sold. Eine Uniform. Und Macht über Juden.
    Endlich konnten diese Männer ihrem Judenhass freien Lauf lassen. Sie verstanden kaum ein Wort Deutsch, auch kein Polnisch und natürlich erst recht kein Jiddisch. Daher waren bei ihnen sämtliche offiziellen Bescheinigungen völlig wertlos. Sie konnten die verzweifelten Erklärungen «Diese Bescheinigung sagt doch, dass ich und meine Kinder von der Umsiedlung ausgeschlossen sind!», «Ich arbeite für den Judenrat» oder «Fragen Sie nach! Bitte!» nicht verstehen. Und selbst wenn sie es gekonnt hätten, sie hätten sich kein bisschen dafür interessiert. So wie sich die Deutschen nicht dafür interessierten, dass ihre Helfershelfer die von ihnen ausgestellten Bescheinigungen ignorierten. Der ganze Papierkram war mittlerweile eine einzige Farce.
    Man war eigentlich nur noch sicher, wenn man in den Baracken auf den Werkstattgeländen leben durfte. Die deutschen Industriellen wie Többens und Schulz kassierten Schmiergelder von armen Seelen, die ihr letztes Hab und Gut hergaben, um als Sklaven arbeiten zu dürfen. Für einen Neun-Karat-Diamanten konnte man – wenn Többens gnädig gestimmt war – sogar die ganze Familie auf dem sicheren Fabrikgelände in den Baracken unterbringen. An Geld nahm er pro Person 100000 Złoty. So viel Geld hatte ich noch nie auf einen Haufen gesehen, geschweige denn besessen. Dem widerlichen Többens war ich noch nie begegnet. Aber ich malte mir aus, wie ich vor diesem Sklavenhalter stand und, anstatt ihm all mein Habe zu geben, in sein Gesicht spuckte. In Wahrheit hätte ich mich wahrscheinlich vor seine Füße geworfen und ihn angebettelt, mich als Sklavin in der Fabrik zu halten, um uns zu retten.
    Wer keine Stelle als Sklave bekam, versuchte sich zu verstecken oder hoffte einfach nur verzweifelt, dass er nicht zu den Tausenden von Juden gehörte, die tagtäglich abtransportiert wurden. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Waisenhäuser drankommen würden. Ich hoffte zwar darauf, dass das von Korczak verschont bliebe, weil ihn doch die ganze Welt kannte. Doch ich wusste natürlich, dass diese Hoffnung absurd war. Die ganze Welt interessierte sich doch einen Scheißdreck für unser Schicksal. Warum sollte ein Einziger ihr wichtiger sein als alle anderen? Nur weil er prominent war, ehrenhaft und weise?
    Die Weißrussen und Letten würden den alten Mann doch noch nicht mal erkennen.

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