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28 Tage lang (German Edition)

28 Tage lang (German Edition)

Titel: 28 Tage lang (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Safier
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erscheinen lassen sollten. Alt genug für eine rettende Anstellung in einer der Werkstätten.
    Es war unheimlich. Wie auf einem furchtbaren Maskenball. Eine Maskerade gegen den Tod.
    Und es wurde noch unheimlicher, als sich eine alte Frau mit gebeugtem Haupt zu uns gesellte, die sich im Gegensatz zu Jurek keinerlei Mühe machte, jünger zu erscheinen, als sie war. Sie hielt ein Amulett in der Hand, fuchtelte damit in unsere Richtung und ganz besonders in meine.
    «Schutzzauber für wenig Geld. Schutzzauber für wenig Geld …», bot sie in einem unheimlichen Singsang an, der unter anderen Umständen vielleicht sogar komisch gewirkt hätte.
    Ich war viel zu baff, um zu reagieren, doch Jurek verscheuchte sie mit ausladenden Armbewegungen: «Verschwinde, du Hexe!»
    Die Frau lachte und hielt ihm das Amulett direkt vor sein Gesicht: «Ich verfluche euch auch gerne umsonst.»
    Jurek erwiderte: «Das sind wir eh alle schon.»
    «Da hast du recht», lachte sie und humpelte weiter.
    Jureks alte Hände – deren hervortretende Altersvenen keine noch so dicke Schminke hätte kaschieren können – zitterten, und er sagte: «Gott hilft niemandem. Da glauben die Menschen wieder an Zauberei.»
    Ich sah der alten Frau nach, die Passanten ihren Schutzzauber anbot, in der Hoffnung, ein paar Złotys zu verdienen.
    «Woran glaubst du denn noch, Jurek?»
    «Ich glaube an Marmelade.»
    «An was?» Ich war völlig verblüfft.
    «Wenn ich schon sterbe, dann wenigstens mit Marmelade», brummelte er traurig und ging an mir vorbei davon.
    Ich blickte ihm nach, viel zu erstaunt, um ihm noch etwas nachzurufen.
    Erst ein paar Minuten später begriff ich, was Jurek gemeint hatte. Auf dem Weg zu Simon hampelte der irre Rubinstein neben einem Plakat herum und rief: «Mit Honig fängt man Bären. Und mit Marmelade Juden!»
    Er war noch dreckiger als sonst und stank für zehn. Dass er nur mit Unterwäsche und Stiefeln bekleidet war, weil es so heiß war, machte die Sache nicht unbedingt besser. Um ihn herum stand eine kleine Menschentraube, die er bestens unterhielt. Rubinstein war selbst in Zeiten wie diesen noch für eine Abwechslung gut.
    Noch verstand ich nicht, was auf einmal alle mit Marmelade hatten, da las ich das Plakat, neben dem der Irre seine Schau abzog:
    Aufruf
    Ich gebe hiermit bekannt, dass alle Personen, die gemäß der Anordnung der Behörden zur Aussiedlung kommen und sich am 29 ., 30 . und 31 . Juli ds. Jhrs. freiwillig zur Abreise melden, pro Person 3  kg Brot und 1  kg Marmelade erhalten.
     
    Der Leiter des Jüdischen Ordnungsdienstes
    Warschau, den 29 . Juli 1942
    Ein Kilo Marmelade pro Person!
    Die meisten von uns hatten seit Jahren so viel Marmelade noch nicht einmal gesehen.
    Und Jurek würde mit ihr in den Tod gehen.
    «Lecker, lecker Henkersmarmelade!», rief Rubinstein und tat dabei so, als ob er aus einem großen nicht vorhandenen Marmeladenglas futterte. Die Bewegungen waren die gleichen wie bei unserer letzten Begegnung, als er Jurek die Marmelade abgepresst hatte, nur dass er eben diesmal keine bei sich hatte.
    «Wer hätte gedacht», gackerte der Irre, von dem ich immer noch nicht wusste, ob er nicht vielleicht doch ein Weiser war, «wer hätte gedacht, dass man die ersten Tage der Umsiedlung mal als die gute alte Zeit ansehen würde!»
    Ein paar der Passanten lachten laut auf.
    Rubinstein rief wieder seinen Evergreen: «Alle gleich! Alle gleich!»
    Dabei lachte er laut und irre. Und die Passanten, selber fast irre, mit ihm. Das ganze Ghetto schien langsam, aber sicher wahnsinnig zu werden.
    Während sie alle lachten, wurde ich wütend: Rubinstein war kein Weiser. Er war einfach nur ein Verrückter.
    Wir waren nicht alle gleich. Die Juden nicht mit den Deutschen. Und die Juden nicht untereinander.
    Alles nur verrücktes Gequatsche.
    Ich wandte mich gerade ab, da entdeckte der Irre mich: «Wo willst du hin, Kleine? Ich dachte, du willst bei mir in die Lehre gehen?»
    Darauf ging ich gar nicht mehr ein. Ich war kein Mensch mehr, der Zeit für solche Scherze hatte. Ich musste zu meinem feinen Herrn Bruder. Essen besorgen.
    Ich eilte durch das Ghetto und bog in die Straße des Polizeihauptquartiers ein. Da hörte ich jemanden rufen: «Sie räumen die Waisenhäuser! Sie räumen die Waisenhäuser!»

21
    Ich sah mich nicht mal mehr danach um, wer das überhaupt gerufen hatte, lief nicht zu diesem Menschen, um zu fragen, um welche Waisenhäuser genau es sich handelte. Stattdessen rannte ich sofort los, durch die

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