28 Tage lang (German Edition)
Warum nur gelang mir das immer noch nicht?
Unsere Gruppe bereitete sich, wie die anderen auch, auf den finalen Kampf vor. Wir machten im Keller unseres Hauses Schießübungen. Oder besser gesagt: Zielübungen, denn wir durften keine wertvolle Munition vergeuden. Außerdem ließen wir uns im Nahkampf ausbilden und darin, wie man Sprengstoff in Flaschen oder Glühbirnen füllte. Es war nicht ganz das Studium, das sich unsere Eltern einst für uns erträumt hatten.
Auch in unsere Gruppe nahmen wir neue Mitglieder auf. Und einen von den Neuen kannte ich von früher. Es war Ben Rothaar. Auf einmal stand er im Keller neben mir, während ich darauf wartete, mit den Schießübungen an die Reihe zu kommen. Er sah ganz anders aus, als ich ihn mir bei meinen Reisen zu den 777 Inseln ausgemalt hatte. Ich hatte den Jungen nur einmal in meinem Leben gesehen, damals, als er Hannah geküsst hatte, und meine Erinnerung an sein Aussehen war daher nicht allzu genau gewesen. Inzwischen hatte er fast schon den Körper eines Mannes – und das, obwohl er gerade mal erst sechzehn Jahre alt war. Und hatte er früher noch eine leicht gebeugte Körperhaltung, stand er jetzt aufrecht da.
«Ben Rothaar», musste ich lächeln.
Es war so schön, dass er noch lebte. Das würde Hannah, wenn ich sie jemals wieder in der Inselwelt besuchen sollte, bestimmt glücklich machen. Von Tag zu Tag glaubte ich fester daran, dass sie dort weiterlebte, auch in den Stunden, in denen ich nicht bei ihr war. Ich wurde wohl tatsächlich verrückt.
«R… R… Rothaar?», fragte Ben und stotterte dabei. Es gibt nun mal Dinge, die sich nicht ändern, egal wie der Körper auch wächst.
Ben wusste natürlich nicht, dass er in der Welt der 777 Inseln Rothaar genannt wurde. Doch wenn ich ihm von dem Fabelreich erzählte, wäre er der Erste, der mitbekommen würde, dass ich vielleicht schon irre war. So ging ich über seine Frage hinweg und wollte wissen, wie er überlebt hatte. Ben berichtete mir, dass sein Vater für den Judenrat arbeitete, wofür er ihn von Tag zu Tag mehr gehasst und sich schließlich im Streit von ihm losgesagt hatte, um sich dem ŻOB anzuschließen. Er wollte lieber in Ehre sterben als von der Gnade der Deutschen leben, selbst wenn das bedeutete, dass er mit seiner Familie brach.
Ich vermutete auch, dass es sein Vater gewesen war, der verhindert hatte, dass Ben Hannah nach dem Beginn der Aktion im Sommer noch mal besuchte, hakte aber nicht weiter nach. Dafür nahm er all seinen Mut zusammen und stellte die Frage, vor deren Antwort er ganz offensichtlich eine unglaubliche Angst hatte: «H… hat … Ha… Hannah …»
«Nein, sie hat nicht überlebt», antwortete ich knapp.
Kaum hatte ich es ausgesprochen, begann Ben zu weinen. Hemmungslos. Wozu wir anderen Kämpfer nicht mehr in der Lage waren, das konnte er: seiner Trauer freien Lauf lassen.
Entsprechend abfällig sahen die anderen ihn an. Seine Tränen erinnerten sie an ihren eigenen Schmerz, und so etwas konnten sie nicht gebrauchen, schon gar nicht bei den Übungen für den finalen Kampf.
Ich war völlig verunsichert, wie ich reagieren sollte, auch mich machten seine Tränen zornig. Andererseits war Ben nun das Nächste, was ich an einer Familie besaß, waren wir beide doch durch unsere Liebe zu Hannah miteinander verbunden. Daher nahm ich ihn in die Arme. Er beugte seinen großen Körper über meine Schulter, und ich strich sanft über sein Rothaar.
«Solange wir an sie denken», sagte ich leise zu ihm, «ist sie nicht tot.»
Obwohl dieser Trost schwach und ungelenk war, wirkte er. Ben hörte auf zu weinen. Er ließ mich los und wischte mit seinem Ärmel die Tränen ab.
«Ich … d… denke jeden T… T… Tag an Ha… Ha… Hannah», erklärte er. «Und i… i… ich werde es immer … t… t… tun.»
«Ich auch», antwortete ich. «Ich auch.»
Dabei kam mir jedoch ein schrecklicher Gedanke: Wenn auch wir beide sterben sollten, und das würden wir bald – hoffentlich im Kampf und nicht im Gas –, wäre auch die Erinnerung an Hannah ganz aus dieser Welt gelöscht, und sie wäre endgültig gestorben.
43
«Wenn du endlich mal fertig bist mit Trösten, muss ich dich kurz sprechen», sagte Esther zu mir. Dabei sprach sie das Wort «trösten» kühl aus, fast schon verächtlich. Trauer war für Esther unnütze Zeitverschwendung, eine Ablenkung vom Wesentlichen. Immerhin begegnete sie mir, seitdem ich eine Heldin war, mit etwas Respekt und auch mit, wie ich zumindest
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