283 - Der Zorn der Königin
verließ ihre Lippen. Während sich die Demokraten nun von ihren Stühlen erhoben und im Raum ein Kommen und Gehen begann, stand sie immer noch vor dem langen Tisch, an dem Warrington eben verkündet hatte, dass sie ein weiteres Mal aus dem Bunker vertrieben werden sollte. Still und starr beobachtete sie, wie einer der Soldaten ihr Gepäck Mars Hawkins überreichte. Sie wirkte gefasst, als sie mit der verwirrten Enna und den beiden verhassten Männern den Raum verließ.
Wahrhaft königlich wirkte sie, während sie Merylbone und Enna über die unzähligen Treppen nach oben folgte. Wie eine Erscheinung stach ihre ganz in weiß gekleidete Gestalt aus dem Grau der Bunkerumgebung heraus. Ruhig und gelassen sah sie aus. Doch in ihr tobte ein Sturm. Hass und Zorn loderten in ihrer Brust wie eine blutrote Flamme. Der Blick ihrer grünen Augen glitt über den Metallsteg, an dessen Ende das geöffnete Schott wartete. Glich es nicht einem hochgezogenen Fallbeil?
In ihrem Rücken hörte sie die Schritte ihres einstigen Geliebten. Rechts und links von dem Metallsteg kroch fauliger Gestank aus den Abzugsgräben.
Beim Schott angekommen, blieb Merylbone stehen. Das Laserphasengewehr in seinen Armen, beobachtete er die Ex-Queen mit funkelnden Augen. Erst als die Fischersfrau neben ihm fragte, warum es nicht weiterging und ob es noch weit bis zum Hafen wäre, wandte er sich von Victoria ab.
Inzwischen war Mars neben sie getreten. Wortlos reichte er ihr den Rucksack. Doch die ehemalige Königin nahm ihn nicht an. Stattdessen berührte sie verstohlen die Hand des rotlockigen Computerspezialisten. »Du hattest recht: Ich hätte mich dir anvertrauen sollen«, flüsterte sie.
Ein kaltes Lächeln glitt über Mars Hawkins' Gesicht. »Zu spät, meine Liebe. Die Würfel sind gefallen.«
Lady Victoria nickte bedächtig. In ihrem Rücken hörte sie Ennas Stimme immer lauter werden. Offenbar wollte die kleine Fischersfrau nicht begreifen, was Claudius Merylbone ihr in seiner boshaften Art zu erklären versuchte. Genauso wenig wie Mars begriff, wen er hier vor sich hatte.
Victoria straffte die Schultern. »Bitte, einen Kuss zum Abschied.« In gespielter Verzweiflung umklammerte sie Hawkins' Handgelenk. »Bitte!«
Zunächst überrascht, dann zynisch lächelnd kam er ihrem Wunsch nach. Während seine Lippen die ihren berührten, spürte sie die Waffe in seinem Gürtelholster. Blitzschnell griff sie zu. Bevor Mars begriff, was vor sich ging, stieß sie ihn vom Rand des Metallstegs. Als sein Körper im Schlamm des Abzugsgrabens aufprallte, hatte sie Mars' Waffe bereits entsichert und auf Merylbone gerichtet.
Dem kahlköpfigen Mann blieb gerade genug Zeit, Enna zur Seite zu stoßen und mit grimmigem Blick das LP-Gewehr hochzureißen. Zum Schuss kam er nicht mehr. Die Kugel aus Hawkins' Waffe traf ihn genau zwischen die Augen. Nicht einmal ein Röcheln war zu hören, als sein hagerer Körper zu Boden sackte.
Enna starrte ihn mit großen Augen an. Zum ersten Mal seit vielen Wochen erschien so etwas wie eine Regung in ihrem Gesicht. »Jetzt werden sie uns erst recht nicht zum Hafen bringen!«, schimpfte sie.
Die Ex-Queen beachtete sie nicht. Mit versteinerter Miene beugte sie sich über den Toten, riss ihm den Waffengürtel von der Brust und nahm das Laserphasengewehr an sich. Sie kontrollierte den Sicherheitsmechanismus: Er war auf Merylbone programmiert. Sie löschte die ID und gab die des Hauses Windsor ein. Sie wurde akzeptiert; niemand hatte sich die Mühe gemacht, die königliche Priorität aus dem Programm zu tilgen. »Geh zur Seite!«, forderte sie dann die Fischersfrau auf.
Victoria feuerte minutenlang auf den Öffnungsmechanismus des Haupttors, bis dieser völlig zerschmolzen und das Tor dauerhaft entriegelt war. Mit glühenden Augen betrachtete sie ihr Werk. »Ich komme wieder. Dann werdet ihr bereuen, mich wie eine räudige Hündin behandelt zu haben!«, zischte sie leise.
Enna runzelte die Stirn. »Was wird hier gespielt? Was ist mit dem Zweimaster? Wir wollen doch nach Osten.«
Nach Osten? Lady Victoria warf der Fischersfrau einen ungeduldigen Blick zu. »Natürlich wollen wir das. Also komm schon, ich kenne eine Abkürzung zum Hafen.«
***
Towerbridge-Tunnel
Wie fast an jedem Tag im November überzog dichter Nebel die Themse. Die Uferbefestigungen waren kaum zu sehen und die Brückenpfeiler der zerstörten Towerbridge ragten wie gezackte Berggipfel aus den weißen Schlieren. Dort wo die Ruinenreste mit dem aufgebrochenem
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