294 - Der Keller
lassen, das war ihre Überzeugung.
Und so war es wahrhaftig. Jurgis, der nie geglaubt hatte, überhaupt Kinder zeugen zu können, erlebte zu seiner Freude, dass Jelena im Frühjahr ein gesundes und ganz normales Kind zur Welt brachte.
»Siehst du?«, lachte sie. »Sage ich nicht immer, dass du perfekt bist? Und unser Kind ist es auch!«
Es war ein Mädchen. Sie nannten es Aiste.
Jelena stillte die Kleine vom ersten Tag an, und von nun an schien das Glück keine Grenzen mehr zu kennen.
Bis zu jenem unseligen Tag im Jahr darauf…
***
Jurgis stapfte quer über den See auf sein Zuhause zu. Seit dem frühen Morgen war er unterwegs, weil er irgendwo Milchvieh hatte auftreiben wollen. Er wollte Jelena damit überraschen, die gerne mit dem Stillen aufgehört hätte. Aiste war ein knappes Jahr alt und vertrug sicher schon Tiermilch.
Aber obwohl er die ganze Umgebung durchstreift hatte, war Jurgis nicht fündig geworden. Vielleicht musste er das Ende des Frostes abwarten und dann mit einem der Bauern in weiterer Entfernung in Verhandlung treten. Anbieten konnte er genug: Die guten Felle, die er den Füchsen und ab und zu auch einem Bär abzog, hätten auf jedem Markt ihre Abnehmer gefunden.
Gedämpfter Laune war er auf dem Heimweg; er hatte Jelena versprochen, bis spätestens zum Einbruch der Dunkelheit wieder zuhause zu sein, und daran wollte er sich auch halten.
Aus dem Rauchabzug der Hütte stieg kein dunkler Faden in den Himmel wie sonst. Hatte Jelena etwa das Feuer ausgehen lassen?
Obwohl müde von seiner ergebnislosen Suche, beschleunigte Jurgis seinen Schritt. Schon von weitem sah er, dass die Tür der Hütte sperrangelweit offen stand - und kurz vor seiner Ankunft mischten sich plötzlich sowohl Huf-, als auch Stiefelabdrücke in die Schneedecke des Uferbereichs.
Die letzte Distanz rannte er - getrieben von einer Furcht, wie er sie fast schon aus seiner Erinnerung gelöscht hatte. Nun raubte sie ihm die Luft zum Atmen, und wie von Sinnen stolperte er endlich durch die offene Tür ins Innere.
Jelena war mit Pflöcken durch Hände und Füße an den Boden genagelt. Sie wimmerte leise, ohne Jurgis' Heimkehr überhaupt zu bemerken. Offenbar hatte sie schon eine Menge Blut verloren, ihre Haut war ganz fahl, ihr Brustkorb hob und senkte sich kaum merklich.
Noch während Jurgis zu ihr eilte, sah er sich in der Hütte nach Aiste um. Aber die Wiege war leer. Und dann kniete Jurgis neben der Liebe seines Lebens und begriff, dass ihr noch viel mehr angetan worden war als das Offensichtliche. Breitbeinig und entblößt war sie angepflockt, der Körper mit Blutergüssen übersät.
Er legte die Hände vorsichtig an ihre Wangen und rief ihren Namen. Nach einer Weile schlug sie tatsächlich die Augen auf - aber obwohl sie Jurgis zu erkennen schien, starrte sie fast blicklos zu ihm empor.
»Aiste…«, hauchte sie.
»Ruhig, meine Liebe, ich muss erst dir helfen -«
»Niemand… kann mir… mehr helfen! Will auch nicht… mehr leben…«
Jurgis zerriss es das Herz. »Wer… wer hat dir das angetan?«, brachte er mühsam hervor.
Jelena schnitt eine schmerzliche Grimasse. »Soll dir ausrichten…« Ihre Stimme versagte.
Jurgis brachte sein Ohr ganz nah an ihren Mund. »Was sollst du mir sagen? Und von wem?«
»Wohin sie…«, es kostete sie übermenschliche Kraft, was ihr Leben noch schneller verrinnen ließ, »… Aiste bringen. Stadt heißt…«
»Wie heißt sie? Wo finde ich diese Scheusale?«
»Tah… Ran…«
»Tah Ran?« Er wusste nicht, wo das lag.
Jelena hustete, bäumte sich auf. Das Leben floh in erschreckender Eile aus ihrem zierlichen Körper. »In Tah Ran…«, presste sie weiter hervor, »… frag nach…«
Jurgis hielt ihr bleiches, kaltes Gesicht immer noch behutsam umfasst. »Wonach soll ich fragen, Liebes?«
»Nach den…« Wieder Husten. Wieder qualvolles Aufbäumen. »… den… Geheimen Oberen…«
Sie sank in sich zusammen. Ihre Gesichtsfarbe erinnerte an die Asche eines heruntergebrannten Feuers.
Jurgis schloss die Augen. Die Handflächen sanft an ihrem Gesicht, wartete er, bis kein Atem mehr aus ihrem Mund kam. Erst als er sicher war, dass sie es überstanden hatte, richtete er wieder den Blick auf sie. Und erst als es ganz dunkel wurde, stand er auf, schloss die Tür und entfachte das Feuer im Herd neu.
Dann legte er sich zu Jelena und deckte sie beide mit Fellen zu. Sie sollte auch tot nicht frieren.
Er schlief neben ihr ein.
Früh am nächsten Morgen stand er auf und befreite
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