3. Die Connor Boys: Diese Nacht kennt kein Tabu
sich kaum zu bewegen, denn unter dem Satin war alles zu sehen. Bloß konnte sie das Kleid auch schlecht vor seinen Augen ausziehen. Also versuchte sie, von sich abzulenken, und reichte ihm ein gerahmtes Foto. „Meine Großmutter schreibt, das Foto wäre 1931 mit der ,neuen natürlichen Farbfotografie' gemacht worden. Es hat nicht die Qualität, wie wir sie heute kennen, und ist stark verblasst, aber es ist das einzige Bild, das ich von beiden zusammen gefunden habe."
Michael stellte die Gläser auf einer der Truhen ab, nahm das Foto und hielt es ans Licht. Er betrachtete es einen Moment, dann schaute er sie wieder an. „Die Ähnlichkeit ist verblüffend. Du hast dieselben Augen, dieselbe Haarfarbe. Aber ich verstehe nicht, wie du auf den Gedanken kommst, sie wäre hübscher gewesen als du. Sie kann dir nicht das Wasser reichen."
„Das sagst du nur, damit ich mir nicht so albern vorkomme."
„Ich wollte dir ein Kompliment machen. Das ist mir wohl gründlich misslungen. Wie könnte es auch anders sein. Noch nie habe ich es geschafft, einer Frau das Richtige zu sagen. Wenn du dich bei dem Kompliment nicht wohl fühlst, nehme ich es gern zurück. Du siehst furchtbar aus. Schrecklich. So besser? Erzählst du mir jetzt die neueste Episode aus dem Liebesleben unserer beiden Verwandten, oder willst du mich noch länger hinhalten?"
Sie musste lachen. Sie konnte nicht anders. Michael behauptete, sich mit Frauen nicht auszukennen. Aber welcher Mann hätte einer Frau einfach gesagt, sie sähe schrecklich aus, nur damit sie sich weniger unsicher fühlte? Und es funktionierte. Sie vergaß das Kleid, setzte sich auf die Kante einer Truhe und begann einfach zu erzählen. „Michael, ich weiß jetzt mehr über das Haus und wie sie zusammengekommen sind. Einfach alles."
„So?" Er reichte ihr ein Glas Limonade. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie das geschafft haben, wo deine Großmutter so vernünftig war, meinem Großvater gleich ein blaues Auge zu schlagen."
„Ja, ich habe inzwischen die nächsten beiden Tagebücher gelesen, von 1930 und 1931. Meine Großmutter hat all das aufgeschrieben, was damals so geschehen ist. Solche Begebenheiten wie zum Beispiel, dass Robert Frost einen neuen Gedichtband veröffentlicht hat, jemand namens Tombaugh den Planeten Pluto entdeckt hat und die Leute sich über Freud und seine Theorien unterhalten haben. Marlene Dietrich hat einen Hit mit dem .Blauen Engel' gelandet, und alle singen ,Georgia On My Mind'. 1931 wird das, Star-Spangled Banner' zur Nationalhymne. Das waren die lustigen Sachen..."
Simone trank einen Schluck Limonade. „Bis 1931 gab es zwölf Millionen Arbeitslose, die vom Staat mit Nahrungsmitteln versorgt werden mussten. Die Wirtschaftskrise hatte alle betroffen. Besonders die Familie meiner Großmutter. In ihrer Ehe wurde es immer schlimmer. Er hat sie körperlich misshandelt, wenn er betrunken war, und sie war gefangen. Sie hatte Angst vor ihm, aber ihre Furcht, dass ihre Familie verhungern müsste, wenn sie sich scheiden ließe, war noch größer. Sie glaubte, den Verstand zu verlieren, wenn sie nicht ab und zu aus dem Haus käme."
„Also hat sie sich weggeschlichen wie vorher?" mutmaßte Michael.
Simone nickte. „Sie ging tanzen. Und da hat sie Benjamin wieder gesehen. Er kam immer wieder in das Lokal, selbst nachdem sie, ihm das blaue Auge verpasst hatte, und wenn sie tanzen wollte, war er da. Ehr lich gesagt, glaube ich, hat er sie beschützt, Michael. Er machte auch keinen Annäherungsversuch, über ein Jahr lang nicht. Er hat ihr offen gesagt, dass er sich von seiner Frau getrennt habe und nicht wisse, ob er die Scheidung bekäme, weil sie katholisch sei. Offenbar suchte er nur jemanden, mit dem er sich gelegentlich unterhalten konnte. Er glaubte nicht mehr an die Liebe, hat er Julia erzählt, und sie glaubte auch nicht mehr an die Liebe, wie sie ihm gestand."
Simone breitete die Hände aus. „Michael... wie ich das sehe, wollten die beiden wirklich nur tanzen. Keiner von ihnen hat sich etwas dabei gedacht. Meine Großmutter war so jung, und sie hatte niemanden, mit dem sie lachen, sich unterhalten oder einfach nur Spaß haben konnte." Sie seufzte. „Jedenfalls war es sehr heiß in diesem Sommer in Colorado. Julia hatte Freunde in Maine, noch aus der Zeit, wo sie hier als Kind die Sommerferien verbracht hatte. Und ihr Mann ließ sie für einen Monat hierher reisen. Wahrscheinlich kannte er die Leute und war sowieso geschäftlich unterwegs."
„Es
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