3. Die Connor Boys: Diese Nacht kennt kein Tabu
verlassen würde, wie die anderen Kerle es getan hatten. Es brauchte Zeit, um ihr zu beweisen, dass sie ihm vertrauen konnte, Zeit, um ihr zu zeigen, dass die Liebe zwischen ihnen echt war.
Das Schreckliche an der Sache war jedoch, dass er im Grunde diese Zeit nicht hatte. Wochen waren bereits vergangen, und er konnte seine Fabriken nicht länger allein lassen. Wenn nicht in den nächsten sieben Tagen ein Wunder geschah, musste er befürch ten, Simone zu verlieren.
Er hörte ihre gedämpften Schritte oben im Flur, und gleichzeitig klopfte es draußen an der Haustür. Er schwang sich aus dem Sessel.
„Michael? Wo bist du?"
„Hier. Ich mach' schon auf."
Er riss die Haustür auf, und im selben Moment kam Simone die Treppe heruntergelaufen. Draußen standen zwei Burschen vom Gartenservice. Sie wollten sich nur melden und nachfragen, ob es besondere Wünsche gebe. Er sagte ihnen, was getan werden musste, doch sein Blick wanderte immer wieder zu Simone.
Sie war vor zwei Stunden gutgelaunt auf den Dachboden gestiegen. Doch irgend etwas schien in der Zwischenzeit passiert zu sein. Er hatte nur keine Ahnung, was. Ihre weiße Hose war gebügelt, und ihr smaragdgrüner Pullover saß tadellos wie immer, aber ihr Gesicht war seltsam blass. Nervös knetete sie die Hände, und der Ausdruck ihrer Augen war beinah erschreckend.
Kaum hatte er hinter den beiden Gärtnern die Tür geschlossen, begann sie zu reden. „Michael, ich brauche ein paar Kartons. Es sieht furchtbar aus oben, aber ich bin jetzt fertig. Ich habe alles danach sortiert, was deiner Familie gehört und was mir. Meine Sachen würde ich gern mitnehmen..."
„Die Kartons kannst du gleich haben. Erst erzählst du mir, was mit dir los ist."
„Nichts. Es ist alles in Ordnung. Ich habe das letzte Tagebuch gelesen", berichtete sie scheinbar fröhlich.
Das Telefon klingelte. Sie wollte schon an ihm vorbeilaufen und den Hörer abheben, doch er hielt sie zurück. „Nein, der Anrufbeantworter ist eingeschaltet." Ausgerechnet jetzt näherte sich Motorengeräusch dem Haus. Das musste der Möbelwagen sein. Micha el ignorierte das, denn Simone ging ihm jetzt vor. „So, du hast also das letzte Tagebuch gelesen. Was steht denn darin?"
„Na ja... es war von 1937. Sie haben ,Vom Winde verweht' zusammen gesehen. Und sie haben Steinbecks ,Von Menschen und Mäusen' gelesen. Milch kostete zehn Cents pro Liter. Kannst du dir das vorstellen? Der neueste Tanz war der Jitterbug, ein Jazztanz..."
Diese Einzelheiten liebte sie. „Simone, über das Geschichtliche können wir uns später unterhalten, ja? Was ist zwischen Benjamin und Julia passiert?" Er spürte, dass das Tagebuch sie erschüttert haben musste. Aber jetzt von ihr eine klare Antwort zu bekommen war aussichtslos.
„Kennst du Rupert Brooke? Den Dichter?"
Wie sollte er? Er kannte nur Shakespeare, und das bloß, weil er ihm in der High School aufgezwungen worden war. „Erzähl mir von ihm", bat er. Sie schaute zur Tür. Der Rasenmäher wurde, draußen im Garten angemacht, und laute Männerstimmen drangen zu ihnen herein. „Lass dich jetzt nicht ablenken. Was war mit diesem Dichter?"
„Julia hat eine Zeile von Rupert Brooke in ihr Tagebuch geschrieben. ,Ich sagte einmal, ich liebe dich. Das ist vorbei. Rasch dahineilende Gezeiten gibt es nicht auf einem landumschlossenen Meer.'"
Der bildliche Vergleich war hübsch. Für Simone mochte er eine tiefere Bedeutung haben, aber ihm sagte das nichts. „Gut. Und weiter?" drängte er.
„So hat sie es beendet, Michael. Sie war, landumschlossen'.
Auch wenn sie deinen Großvater sehr geliebt hat, sie war verheiratet und hat nicht zugelassen, dass er eine andere findet, solange sie die Verbindung zu ihm aufrechthielt."
Sie schaute ihn an. Ihre Gefühle lagen deutlich sichtbar in ihrem Blick. Wenn er sie nur deuten könnte. „Schatz, du wusstest doch, dass die Affäre irgendwann zu Ende sein würde."
Sie nickte heftig. „Natürlich wusste ich das. Und so gesehen, könnte man auch sagen, ist es für Julia gut ausgegangen. Durch Benjamins Liebe hatte sie sich verändert, hatte Mut und Selbstbewusstsein bekommen. Am Ende war sie eine andere Frau, stärker - stark genug, um sich wehren. Sie hat Benjamin nicht wieder gesehen, sondern ist in ihre Ehe zurückgekehrt. Misshandlungen hat sie sich nicht mehr gefallen lassen. Schließlich haben sie und mein Großvater ein Kind bekommen und noch viele Jahre zusammengelebt. Ich will damit nicht sagen, es war richtig, dass Julia
Weitere Kostenlose Bücher