3. Reich Lebensborn E.V.rtf
zwischen den Meilensteinen der Verlassenheit, denken: an 67
Klaus Steinbach, den Oberleutnant. An seine kalten Augen. An seinen harten Mund. Sie hatte ihn zu sehr geliebt, seine Lippen zu weich geküßt, als daß sie jetzt den Gedanken ertrüge, ihn verloren zu haben.
Doris wußte nicht, was sie mehr vorwärtstrieb: der Widerwille gegen die ungeheure Zumutung, die jederzeit an ihre Zimmertür klopfen konnte, oder das Bewußtsein, auf Klaus für immer verzichten zu müssen.
Aus dem Horizont wuchs der Kirchturm der Kleinstadt wie ein warnender Finger. Da setzte die Not zum Endspurt an. Links, rechts, links, rechts. Die Lunge stach. Die Beine schmerzten. Die Gedanken rasten. Die Pfützen spritzten. Wohin? Wohin soll ich gehen?
Nach Hause. Wohin sonst! Und vor dem näherkommenden Bahndamm ahnte Doris die Begegnung im Elternhaus.
»Gut, daß du da bist, Kind«, sagt der Vater. Er holt zwei Gläser, schenkt sich ein, hebt sein Glas und sagt: »Prost ... auf dich, Doris!«
Gelb schimmert der Kognak im Glas. Vorzügliche Ware, aus Frankreich, von Klaus geschickt! ...
Doris stolperte, taumelte, verlor den Koffer, rastete einen Moment. Die Mutter ...
»Was machst du denn für Sachen, Doris? ... Was? Weggelaufen? Ohne Urlaubsschein? ... Mein Gott, wie kannst du so etwas tun?« Sie hat den leise klagenden Ton, den sie immer anwendet, wenn sie bei ihren politisierenden Kaffeekränzchen auf Zweifel ihrer Damen stößt.
»In welche Situation bringst du mich?« fährt sie fort. »Nein, das ist doch alles Unsinn! Das ist nur Gewäsch! ... Die Feinde der Bewegung stecken überall ... Du mußt sofort zurück in dein Lager! ... Ich möchte nicht, daß meine Tochter ...«
Doris nahm den Koffer wieder in die Hand. In die linke, in 68
die rechte. Sie spürte die Schwielen auf der Haut. Die Oberarme zogen wie Mühlsteine nach unten. Hundert Meter noch bis zum Bahndamm.
Sie schaffte sie, stellte den Koffer ab, setzte sich darauf. Wohin?
Zurück ins Lager? Mein Gott, die Arbeitsdienstführerin ... Doris sah das vertrocknete, altjüngferliche Gesicht und seine schnaubende Reaktion. Auf einmal drehten sich alle Begriffe vor ihr: Elternhaus, Staat, Arbeitsdienst, Hitlerjugend ... alles wankte und schwankte und paßte nicht mehr zueinander. In dieser Stunde war Doris zu verwirrt, um damit fertig zu werden, um sich zu verteidigen.
Sie hielt sich eher für eine schlechte Nationalsozialistin als für eine gesunde, junge Frau. So suchte sie die Schuld bei sich, weil sie nicht glauben wollte, daß die eingehämmerten Maßstäbe ihres Lebens krank waren.
Das Fieber verebbte. Mit glanzlosen Augen stand das Mädchen an der Schranke neben der kleinen Station. Doris starrte auf die Schienen.
Plötzlich bremste ein Wagen vor ihr. Seine Räder radierten auf dem Kies. Doris zuckte zusammen. Der Mann am Steuer trug SS-Uniform. Er gehörte zum Stammpersonal des Lebensborns. Der Heimleiter hatte ihn als Schergen ausgeschickt.
»Steigen Sie ein!« sagte der Uniformierte barsch.
»Ich ... ich wollte ...«, erwiderte Doris.
»Das können Sie alles dem Sturmbannführer sagen.«
Sie mußte ihren Koffer selbst verladen. Dann stieg sie ein. Blicklos, glücklos, wortlos kauerte sie auf ihrem Sitz. Der Fahrer gab Gas. Der Kübelwagen holperte zurück in das Heim, das zu ihrem Schicksal werden sollte ... Auf einmal empfindet Klaus Steinbach fürchterliche Angst 69
um Doris. Seine Augen tasten sich im Schulungsraum über die Erbsen und Kastanien an der Wandtafel hinweg. Doris ... warum ist sie weggelaufen? Vielleicht meinetwegen? Zwischen Schuld und Verantwortung spürt er auf einmal den grellen Strahl jäher Freude.
Dann aber denkt er wieder militärisch-exakt: Was kann der Sturmbannführer gegen sie unternehmen? Meldung wegen unerlaubter Entfernung? ... Strafarbeit in einer Rüstungsfabrik?
... Versetzung in ein namenloses Nest am Ende der Welt? ... Parteiverfahren? ... Als Bodensatz dieser Überlegung bleibt bei Klaus zurück: es darf nicht geschehen!
Er betrachtet den Heimleiter, den er haßt, seitdem er ihn sah. Er kräuselt die Lippen über seine botanisch-biologischrassenhygienische Wissenschaft, quer durch den Gemüsegarten. Dann wandert sein Blick zu Erika, der Jungführerin, weiter. Sie ist eine Freundin von Doris, denkt er. Ich muß mit ihr sprechen.
Bei der gemeinsamen Mittagstafel setzt er sich einfach neben sie. Er sucht einen Anfang, findet ihn nicht und zerschneidet zornig seinen Burgunderbraten. Haben sie Doris wieder eingefangen?
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