30 - Auf fremden Pfaden
jedoch den Lagerplatz noch nicht erreicht, als ich das Krachen einer Salve hörte. Da rannte ich in größter Eile weiter. Als ich ankam, sah ich zwölf Leichen liegen.
„Du hast sie erschießen lassen!“ rief ich dem Scheik zu. „Ich wollte doch vorher mit ihnen reden!“
„Ich sagte es ihnen“, antwortete er. „Da fluchten sie auf dich, auf uns, auf den Glauben, auf alle Religionen; der Grimm erfaßte mich und ich ließ sie niederschießen. Allah sei ihren Seelen gnädig!“
„Ich sehe nur zwölf. Wo ist der Anführer, der Kys-Kaptschiji?“
„Komm, ich will ihn dir zeigen!“
Er führte mich nach dem Ufer, an welchem seine Leute in das Wasser blickend standen. Ich sah mitten im Fluß ein kleines, aus Gras hergestelltes Floß, auf welchem der gefesselte Händler saß.
„Was soll das sein?“
„Das Urteil, welches du ihm gesprochen hast. Wir haben es bestätigt. Er hat das falsche Iagh kuds verkauft und uns mit dem falschen Damm el mukaddas betrogen, er hat mit dem heiligen Öl und mit dem heiligen Blut Schwindel getrieben: dafür wird ihm nun el Ma el mukaddas, das heilige Wasser des Propheten Nahum, über dem Kopf zusammenlaufen. Die Kugel ist für ihn zu schnell und zu gut; er sitzt auf einem Floß des grünen Grases, welches nicht schwimmt, sondern langsam untergeht; er wird im Wasser ersäuft; du hast es ihm gesagt, daß dies das Beste für ihn sei.“
Mich schauderte; aber ich mußte meine Pflicht tun und rief dem Unglücklichen zu, daß er nicht so jämmerlich ertrinken, sondern durch eine schnelle Kugel sterben solle, wenn er reuig … Er ließ mich nicht ausreden, sondern sandte mir einen Fluch herüber, den keine Feder niederschreiben kann. Ich wandte mich ab; Zeuge eines solchen Endes zu sein, war mir absolut unmöglich. –
Der Scheik hatte erfahren, wohin die früher Geraubten verkauft worden waren; er, der Perser und ich übernahmen es, die Angehörigen derselben je nach der Gegend, in der sie wohnten, davon zu benachrichtigen.
Die Schirwani-Kurden wanderten noch am Vormittage fort; sie ließen keinen Gruß zurück. Dann nahm der Perser mit seinen vier Begleiterinnen freundlich Abschied von uns; er drückte mir beide Hände und nannte mich seinen Freund. Inzwischen war das Floß mit dem Händler versunken. Wir begruben die erschossenen Armenier und zogen dann auch fort, nach dem Jilak (Sommerlager) der Zibari, denn der alte Scheik hatte nicht eher zu bitten aufgehört, als bis wir ihm versprachen, wenigstens eine Woche lang bei seinem Stamm zu wohnen. Von einem Kys-Kaptschiji hat man seither nicht wieder gehört. –
Maria oder Fatima
Wir, nämlich ich und mein treuer, langjähriger Begleiter, Hadschi Halef Omar, hatten die zwischen dem Kaspischen Meer und dem Urmia-See liegende Gegend durchstreift und waren dann über die türkische Grenze nach Rowandiz gekommen, um von da aus in gerader Richtung nach Amadijah zu reiten. Heute befanden wir uns im östlichen Teil des Tura-Ghara-Gebirges und hielten auf einer kahlen Höhe, von welcher aus wir die Sonne untergehen sahen. Es war ziemlich kalt, denn wir befanden uns im Anfang des Oktobers, welcher zwischen jenen düstern, wald- und wasserreichen Bergen rauh aufzutreten pflegt.
Es hat bis heute wenige Europäer gegeben, von denen man sagen kann, daß sie den Mut besaßen, bis zu dem Tura-Ghara-Gebirge vorzudringen. Die Kurden, welche es bewohnen, sind die bigottesten Mohammedaner, die man sich denken kann, räuberisch gegen jedermann und grausam gegen Andersgläubige. Wir beide jedoch waren wohlbewaffnet, hatten Erfahrungen genug, und da ich ihrer Sprache in den zwei Hauptdialekten mächtig war, durften wir hoffen, heiler Haut davonzukommen.
Die Sonne hatte den Gipfel des gegenüberliegenden Berges erreicht und senkte ihre Strahlenaureole langsam hinter denselben hinab, den Himmel mit glühenden Scheidegrüßen überzuckend. Es war ein Anblick, welcher zum Gebet stimmte. Ich dachte an das Ave-Läuten der Heimat und faltete die Hände. Halef tat dasselbe, er, der, als ich ihn kennen lernte, ein so engagierter Moslem gewesen war und sich alle Mühe gegeben hatte, mich zu seinem Glauben zu bekehren.
Da klang aus der Tiefe ein Ton, welcher mich erstaunt aufhorchen ließ. Es war die leise, aber doch vernehmbare Silberstimme eines Glöckchens, und kaum ließ sie sich vernehmen, so hörten wir in unserer Nähe eine andere, lautere Stimme:
„Sallam ya Marryam; malj am et taufik!“
Dies heißt zu deutsch: „Gegrüßt seist du, Maria,
Weitere Kostenlose Bücher